Michael Scheffler: Moralische Verantwortung von Bauingenieuren
Buchbesprechung von: Simon Rettenmaier
Scheffler, Michael: Moralische Verantwortung von Bauingenieuren: Problemstellungen, Perspektiven, Handlungsbedarf. Wiesbaden, Springer Fachmedien 2019.
Das Zusammenspiel der wissenschaftlichen Disziplinen Philosophie und Ingenieurswissenschaften erscheint im ersten Moment etwas ungewöhnlich und bildet auch tatsächlich selten eine Einheit in Personalunion. Dies ist erstaunlich, da es doch auf der Hand liegt, dass in diesem Fall eine spannende Verquickung ethischer Reflexionsfähigkeit und gleichsam unbedingter Praxisverbundenheit zu erwarten ist. Dr.-Ing. Michael Scheffler, Bauingenieur und Philosoph aus Kassel, bedient genau diesen Anspruch.
In seinem neuesten Buch „Moralische Verantwortung von Bauingenieuren“ betrachtet der Autor ein Themenfeld, welches im aktuellen Kanon philosophischer Fachmedien eher untergeht – die moralische Verantwortung im Arbeitsalltag von Bauingenieuren. Dabei betrachtet der Autor das Baugewerbe mit einem vorgelagerten historischen Abriss, in dem er aufzeigt, dass Bauphilosophie und Gesellschaftsentwicklung eng verzahnt zu analysieren sind. Bauprojekte folgten demnach insbesondere zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts einem Credo der Superlative und stellten Leistungsstärke stets in das Zentrum der Planungen: „Diese Richtung des technischen Fortschritts stand im Einklang mit gesellschaftlichen Werten, wie der Mehrung von Sicherheit, Wohlstand, Freiheit und Entfaltung.“ (S. 1) Dabei blieb, laut Scheffler, eine eingehende Reflexion der Auswirkungen technischen Fortschritts im Zeichen der Superlative auf die ökologisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen weitestgehend aus. Zusammenhängende grüne Lungen wurden immer weiter beschnitten, Wälder verknappt, Wiesen zu industriellen Filteranlagen umfunktioniert – hier zeichnet der Autor eine Entwicklung nach, die wir gesamtgesellschaftlich heute oftmals als Beginn des Klimawandels im Zeichen der Industrialisierung vorgetragen bekommen.
Der Ansatz von Scheffler hebt sich nun jedoch maßgeblich vom Großteil aktueller Publikationen rund um den Klimawandel ab, da er – grundlegend auf dem Verantwortungskonzept des Philosophen Hans Jonas – hinterfragt, inwieweit ein jeder technologischer Fortschritt vor der gesellschaftlichen Implementierung einer kritischen, moralischen und ethischen Reflexion und Risikoabschätzung bedarf: „Tschernobyl und Fukushima […] an ihnen ist die heutige Ambivalenz der Technik besonders eindrucksvoll ablesbar: Sie nutzt dem Menschen und bedroht ihn zugleich. In nahezu jeder technischen Praxis kann es zu nicht erwünschten Ergebnissen kommen.“ (S. 90) Was Scheffler nun diskutiert, ist eine Frage der generationenübergreifenden Verantwortung. In Anlehnung an Jonas betrachtet es der Autor als gesetzt, dass es eine „Pflicht der Jetzt-Existierenden gegenüber einem Recht von (noch) Nicht-Existierenden“ (S. 91) gibt und die Einhaltung dieses
Rechtsanspruchs vor allem durch Berufsgruppen im Bereich technischer Innovatiosgestaltung – im Konkreten somit auch von Bauingenieuren – verfolgt werden muss.
Der Analyse im Gesamten kommt derweil die Expertise des Autors zugute, welcher als Doktor der Ingenieurswissenschaft und Master der Philosophie sowie als selbstständiger Planer und
Baugutachter das betrachtete Spektrum profund abzubilden vermag. So finden sich auch ein rechtlicher Diskurs zum Berufsbild des Bauingenieurs wie eine eingehendere Betrachtung des
Verantwortungsbegriffs von Jonas zur theoretischen Unterfütterung im Buch wieder. Im rechtlichen wie marktwirtschaftlichen Modus liegt, so Schefflers Analyse, das Spannungsfeld tatsächlich möglicher Verantwortungsmuster. Um Verantwortung im postulierten Sinne von Jonas übernehmen zu können, muss ein Abschätzen der unmittelbaren Folgen des eigenen
Tuns möglich sein. Dieses Abschätzen ist jedoch im Falle der Bauingenieure oftmals u. a. dadurch verunmöglicht, dass eine klassische Arbeitsteilung in Großprojekten die Vogelperspektive für den Einzelnen verwehrt und rechtliche Bindungen den Bauingenieur zu einem Schema F anhalten: „Offen ist hier allerdings, auf welche Weise individuelle anteilsmäßige Verantwortungsfeststellungen vorgenommen werden könnten, in welche Zuständigkeiten die Feststellungsvorgänge fallen und wer die Richtigkeit der Feststellungen beurteilen würde, sodass am Ende Widerspruchsfreiheit und allgemeine Akzeptanz stünden.
Solange dies ungeklärt bleibt, dürften Beurteilungs- und Verantwortungskonflikte sicher sein“ (S. 129/130). Ungeachtet der Komplexität notwendiger kleinteiliger Aushandlungsprozesse
zur ethisch-moralischen Einschätzung der Arbeitsschritte eines Bauingenieurs resümiert Scheffler: „Unabhängig davon, wie eine endgültige Lösung aussehen könnte – der Bauingenieur wird nicht von seiner Verantwortung entbunden. Er bleibt gefordert, seinen
Betrag zum Gesamterfolg trotz steigender Unübersichtlichkeiten der Kooperationen zu bestimmen und zu verantworten“ (S. 136/137).
Die letzten Kapitel des Buches versuchen sich dann an einer kritischen Bestandaufnahme gegenwärtiger Bemühungen zu verantwortungsbewusstem und umweltethischem Handeln
im Ingenieurswesen und (ansatzweisen) Handlungsempfehlungen. Hier fällt die interdisziplinäre akademische Bildung in Abgrenzung zur langjährigen Berufserfahrung des Autors ebenfalls ins Gewicht. So wird die kritische Bestandsaufnahme teils durch markante
Klarheit und argumentative Härte im Duktus einer Greta Thunberg auffällig, gleichsam zeigt Scheffler auch ein Verständnis für oftmals scheinbar widersprüchliches Verhalten im ethisch bemühten Bauingenieurswesen, beispielsweise wenn neu identifizierte umweltethische Problemfelder in einem ersten Impuls mit neuen technischen Standards begegnet werden soll. Dabei mahnt er an, dass kaum jemand hinterfragt, „ob die ständige Optimalität zulasten der natürlichen Umwelt und damit unseres Lebensraums wirklich notwendig ist“ (S. 144) und appelliert anschließend, dass Bauingenieure „sich als verantwortungsvolle Treuhänder
kommender Generationen verstehen [müssen], die sich weder auf ihre Aufgaben vorbereiten noch Einspruch gegenüber den jetzt Tätigen erheben können“ (S. 146).
Die Handlungsempfehlungen eröffnet Scheffler – zunächst etwas überraschend für den Leser – mit einem wissenschaftstheoretischen Analysepart zur universitären Studiengestaltung. Hier moniert er eine zu starke Fokussierung auf natur- und technikwissenschaftliche
Grundsetzungen, wenngleich er nicht die Notwendigkeit dieser Lehren in Frage stellt. Nichtsdestotrotz zeigt er auf, dass ethische Reflexionsbegabung bei angehenden Ingenieuren ebenfalls unbedingt geschult werden muss, da diese Reflexionsbegabung und der praktische Erfahrungsschatz ein moralisches Abwägen überhaupt erst ermöglichen. Für den Arbeitsmarkt resultiert hieraus u. a. die Erkenntnis, dass alters-/erfahrungsbezogene Ausgeglichenheit in Ingenieurteams ebenso erstrebenswert sind wie die kontinuierliche Weiterbildung zu technischen Neuheiten.
Im Gesamten hat der Autor mit diesem Werk einen Aufschlag getätigt, der absolut aktuell erscheint – insbesondere vor dem Hintergrund der global Aufsehen erregenden Fridays for
Future Bewegung, den Debatten um künftige Mobilitätsformen etc. – und zudem den Fokus auf einen Fachbereich ausstellt, welcher im aktuellen öffentlichen Diskurs eher am Rande beachtet wird. Für umweltbewusste Ingenieure, interdisziplinär ausgerichtete Philosophen wie auch für interessierte Laien ist dieses Buch in diesen Zeiten durchaus lohnenswert. Kleinere Schwächen zeigen sich jedoch auch: So verliert sich das Buch an manchen Stellen bspw. derart detailreich in einer Expertendebatte des Bauingenieurswesens, dass es für die philosophische Lesart zu expliziert wirkt. Diesem Manko kann der Leser derweil jedoch gut
entgehen, da die inhaltliche Struktur so angelegt wurde, dass diese Exkurse in ihrer inhaltlichen Fülle für das Erfassen der Gesamtthematik nicht ausschlaggebend sind, sondern
mehr als freiwillige Vertiefung angegangen werden können. Zwei andere Kritikpunkte lassen sich nicht so galant abschreiben: Zum einen argumentiert der Autor an einigen Stellen im Fließtext klar empirisch und relational, die angeführten Quellen können dies jedoch nicht befriedigend grundieren. Dies betrifft u. a. die Auseinandersetzung mit der Struktur und inhaltlichen Ausstaffierung von Studiengängen im sechsten Kapitel. Hier wären Verweise auf Ergebnisse der Hochschulforschung oder aber auf Forschungslücken wünschenswert. Zum anderen ist die Formatierung der Quellenangeben sehr unglücklich, diese wurden
ausnahmslos als Endnoten gesetzt. Das bedeutet für den Leser, dass einem Fließtext von 202 Seiten die gänzlichen Literaturverweise auf weiteren 50 Seiten mit einem Umfang von 506
Verweisen folgen. Ein „schnelles Nachschlagen“ der Verweise wird somit zu einem feinmotorischen Kraftakt, was es aber wohl dem Verlag zuzuschreiben gilt.