Die zunehmende Digitalisierung der universitären Bildung – Chance als auch Gefahr?

Die zunehmende Digitalisierung der universitären Bildung – Chance als auch Gefahr?

„Technische Rationalität heute ist die Rationalität der Herrschaft selbst. Sie ist der Zwangscharakter der sich selbst entfremdeten Gesellschaft.“[1]
– Max Horkheimer, Theodor W. Adorno

Während der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie, fallen angesichts der sozialen Distanz, die gewahrt werden muss, die Begriffe Digitalisierung und Bildung mehr zusammen als ohnehin schon. Die Lehre wurde sowohl in der schulischen als auch in der universitären Bildung in das Digitale verlagert. Deshalb lohnt es sich, die derzeitige und kommende Entwicklung zunehmender Digitalisierung in der Lehre kritisch zu betrachten. Wenn über die Digitalisierung der Bildung gesprochen werden soll, muss der Begriff Bildung erst einmal auf seinen eigentlichen Gehalt hin untersucht werden. Wovon redet man also, wenn man von Bildung spricht?

Die Frage nach dem, was Bildung ist, ist komplex und wurde sehr unterschiedlich beantwortet. Im Folgenden soll das humanistische Bildungsideal Wilhelm von Humboldts jedoch als Grundlage für einige Überlegungen dienen. Kompakt zusammengefasst bedeutet Bildung nach diesem, die Entwicklung eines Menschen hinsichtlich der Entfaltung desselben zum Menschsein.[2] Dieses Bildungsideal steht für ein reflektiertes Verhältnis zur Welt, zu anderen und zur eigenen Person. Zunehmend gerät dieses Bildungsideal jedoch in Vergessenheit, da ökonomische Zwänge den Alltag der Lehre in Bildungseinrichtungen beeinflussen. Es ist offenkundig, dass dieses Bildungsideal, welches die Individuen zu freien, selbstbestimmten und mündigen Menschen machen soll, noch nie erfüllt worden ist. Deshalb ist die folgende Zustandsbeschreibung mitnichten als eine Lobpreisung einer nicht existenten vergangenen Bildungsutopie zu betrachten.

Die universitäre Forschung muss sich heutzutage nach Geldgebern umschauen und Themen deshalb nach der Nachfrage auswählen, Student*innen sehen sich mit der allgegenwärtigen Lage des Arbeitsmarkts konfrontiert, Dozent*innen sind bereits Teil des akademischen Prekariats. Die Struktur und Organisation der Lehre werden weniger von einem Glauben an das Menschwerden eines jeden Individuums bestimmt als vom Erlernen von Kompetenzen, die die Wettbewerbschancen der Einzelnen erhöhen sollen, geprägt.

Die Diskussion um die Frage der Digitalisierung wird gegenwärtig vor allem aus einem wettbewerbsorientierten respektive aus einer ökonomischen Sichtweise heraus betrieben. Fragen von Pädagogik und Vermittlung von Werten stehen hinten an. In der Debatte geht es darüber hinaus sehr viel weniger um die Frage, wie sich der Unterricht durch die Digitalisierung wandeln wird, sondern um Fragen der Anschaffung von Geräten, wie Laptops, Tablets oder Whiteboards und die Einbindung dieser Gerätschaften in die Zeit des Lernens. Die gegenwärtige Situation, zu der es auf Grund der Corona-Krise kam, lässt Studierende wenigstens rudimentär erfahren, wie eine digitale Bildung ohne Präsenzlehre, analoge persönliche Kontakte zu anderen Kommiliton*innen oder Dozent*innen stattfindet und wie sie sich auf die eigene Person auswirkt. Man selbst nimmt sich als Bildungskonsument wahr, der der jeweiligen Lehrperson lediglich in einem recht anonymen Verhältnis begegnet und dies auch nur dann, wenn die Ergebnisse der Akkumulation von Informationen präsentiert werden sollen. Die Erkenntnis der Kritischen Theorie, die das einleitende Zitat widerspiegelte, dass der Einzelne immer mehr zum Anhängsel der Maschine wird, droht sich in dieser Form der digitalen Lehre weiter zuzuspitzen.

Gegen dieses negative Beispiel aus jüngster Zeit sollte man jedoch auch mögliche positive Aspekte digitaler Lehre betonen. Die digitale Lehre könnte nämlich zu flexibleren Lernzeiten führen, die es den Studierenden ermöglichen, sich ihre Zeit noch eigenständiger einzuteilen. Beispielsweise könnten Menschen, die in Teilzeit studieren von dieser Flexibilität profitieren, da sie so womöglich die Balance zwischen Familienleben oder Job und dem Studium besser halten können. Reine Wissensvermittlung kann durch das Ausschöpfen digitaler Möglichkeiten zudem sehr gut, wenn nicht sogar besser als mit der bisherigen Lehre, gelingen. Außerdem könnte die Digitalisierung den Zugang zu Bildungs- und Kulturgütern weiter öffnen und so mehr Menschen erreichen.

Theodor W. Adorno entgegnete solcherlei Argumentationen in seiner „Theorie der Halbbildung“: „Daß Technik und höherer Lebensstandard ohne weiteres der Bildung dadurch zugute komme, daß alle von Kulturellem erreicht werden, ist pseudodemokratische Verkäuferideologie.“[3] Um diese Ablehnung zu illustrieren verwendet Adorno eine empirische Studie, in der zwei Vergleichsgruppen klassische Musik hörten. Die eine Gruppe kannte die Musik aus öffentlichen Aufführungen in Theatern oder Konzerthäusern, während die andere Gruppe diese lediglich aus dem Radio kannte. Ergebnis dieser Untersuchung war, dass die Radiogruppe deutlich flachere und verständnislosere Reaktionen zeigte als die andere Gruppe.[4] Dies zeigt, dass aktive tatsächliche Erfahrungen sich qualitativ von indirekten Erfahrungen unterscheiden, dass indirekte Erfahrungen die eigentliche kulturelle Erfahrung zum Konsumgut degradieren. Die Digitalisierung der Bildung hat, so betrachtet, das Potenzial die Qualität der Erfahrung von Kultur und Bildung zu verflachen. Hinzu kommt der Aspekt, dass Formen digitaler Lehre, zu Barrieren in der persönlichen Beziehung zwischen Lehrkraft und Lernenden führen können. Dadurch werden Debatte und Austausch immer rarer und die Beziehung hegemonial eindimensional. Ideen, wie Denk-, Rede- und Gewissensfreiheit, verlieren ihre kritische Bedeutung, da sich die Räume, in denen diese Ideen stattfinden können, verändern. Angesichts der Veränderungen in der Kommunikation, durch das Digitale, verändert sich die Art und Weise wie subversive Ideen diskutiert werden.[5]

Das Argument der flexibleren Zeiteinteilung ist auf den zweiten Blick jedoch auch trügerisch. Ähnlich wie in der heutigen digitalen Arbeitswelt droht die Grenze zwischen Privatleben und Arbeitsleben zu verschwinden. Das Stichwort „Work-Life-Balance“ drängt sich auf.

Generell sind die Motive einer Digitalisierung der Universität zu hinterfragen. Viele Aspekte einer solchen, zielen auf Anliegen die vor allem wirtschaftlicher Natur sind, wie beispielsweise Standardisierung, Flexibilisierung und Effizienz im Allgemeinen. Bereits durch Standardisierungsmaßnahmen wie den Bologna-Prozess, wurde die universitäre Lehre weiter von einer Lehre mit Bezug auf das klassische Bildungsideal hin zu einem vereinheitlichten Wirtschaftsbetrieb getrimmt. Digitalisierung unter denselben Vorzeichen würde diese Tendenz zementieren. Darüber hinaus drückt sich darin auch eine gewisse Form der Herrschaft aus, die zu neuen Formen sozialer Kontrolle führt.[6] Herbert Marcuses Schilderungen zum Medium der Technik, erscheinen aus dieser Perspektive erhellend, wenn er schreibt: „Im Medium der Technik verschmelzen Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen System, das alle Alternativen in sich aufnimmt oder abstößt. […] Technologische Rationalität ist zu politischer Rationalität geworden.“[7] Bezogen auf die Digitalisierung des Lehrbetriebs meint dies eine Tendenz zu eindimensionalen Beziehungen zwischen Lernenden und Lehrenden, weniger breit gefächerte Diskussionen und eine Gesamttendenz das Bestehende zu affirmieren ­– oder sogar alternative Sichtweisen durch Aufnahme in das Bestehende ihrer Schlagkraft zu berauben.  

Abschließend ist festzuhalten, dass es viele Vorteile einer Digitalisierung der Lehre gibt. Dass diese jedoch mit einer menschlicheren Bildung einhergehen, muss jedoch bezweifelt werden. Effizienz und Flexibilität, als auch Kompetenz- und bloße Wissensaneignung sind die Aspekte, in denen die Digitalisierung glänzt. Schon heute und in der Zukunft wird die Digitalisierung die Art und Weise des Lernens nachhaltig verändern, deshalb ist es wichtig sich mit dieser Thematik auseinander zu setzen, um elementare humanistische Überzeugungen und Ideale zu bewahren.

Über den/die Autor*in: Fynn Lasse Schauder studiert Geschichtswissenschaften und Philosophie an der Universität Kassel.


[1] Horkheimer, Max, Adorno, Theodor W. (2016): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main, S. 129.
[2] von Humboldt, Wilhelm (1797): „Über den Geist der Menschheit“, in: Fitner, A. (Hrsg.), Giel, K. (Hrsg.), Werke in fünf Bänden. Bd. I., Stuttgart, S. 515.
[3] Adorno, Theodor W. (1959): „Theorie der Halbbildung“, in: Busch, A. (Hrsg.), Soziologie und moderne Gesellschaft: Verhandlungen des 14. Deutschen Soziologentages vom 20. bis 24. Mai 1959 in Berlin, Stuttgart, S. 169-191, hier S. 182.
[4] Vgl. Adorno, „Theorie der Halbbildung“, S. 182.
[5] Vgl. Marcuse, Herbert (1968): Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied, S. 21.
[6] Vgl. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 18.
[7] Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S.19.

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