„Die administrative Aufsaugung der Kultur durch die Zivilisation ist das Ergebnis der etablierten Richtung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, der sich ausweitenden Unterwerfung von Mensch und Natur durch die Mächte, die diese Unterwerfung organisieren und den sich erhöhenden Lebensstandard dazu benutzen, ihre Organisation des Kampfes ums Dasein zu verewigen“[ii]
Vor dem zeithistorischen Hintergrund der sich anbahnenden, weltweiten Studierendenproteste, die für eine Demokratisierung und Öffnung der Universitäten kämpften, veröffentlichte Herbert Marcuse 1965 den Aufsatz „Remarks on a Redefinition of Culture“[iii], in dem er für die Einrichtung von „Elite“-Universitäten plädiert. Wie Marcuse zu dieser den Forderungen der Studierenden scheinbar widersprechenden Idee kam, soll im Folgenden rekapituliert und mit dem hegemoniekritischen Kulturverständnis Antonio Gramscis konfrontiert werden.
Gemeinhin hat sich im Begriffsverständnis eine Unterscheidung von Kultur und Zivilisation entwickelt. Während Zivilisation den heteronomen Bereich der Arbeit und Reproduktion bezeichnet, meint Kultur eine höhere Dimension menschlichen Daseins, in der der Mensch sich zu verwirklichen anstrebt. So beschreibt schon Immanuel Kant die Kultur als den Bereich, in dem der Mensch eigentlich erst Mensch im Sinne eines freien und vernünftigen Wesens werde [iv]. Hieraus ergibt sich die berechtigte Annahme, dass die Demokratisierung der Kultur den Menschen ein freieres und befriedetes Dasein ermöglicht. Herbert Marcuse entwickelt dazu die Gegenthese, indem er zu zeigen versucht, wie durch die Durchsetzung der technologischen Rationalität die Sphären von Kultur und Zivilisation zunehmend nivelliert werden.
Technik und Kultur, so Marcuse, stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Einerseits habe sich durch den technischen Fortschritt die Spannung der Dichotomie zwischen Kultur und Zivilisation verstärkt, indem dieser die Möglichkeiten der Befreiung des Menschen vom Kampf ums Dasein greifbarer gemacht hat und somit die antagonistischen, nun realisierbaren Werte der Kultur dem Reich der Notwendigkeit, der Zivilisation gegenüberstellt. Andererseits werde die Spannung immer mehr dadurch unterdrückt, „dass die Kultur dem täglichen Leben und der Arbeit systematisch und organisiert einverleibt wird“ [v]. Trotz demokratischer Formen im Umgang mit kulturellen Gütern führe diese Integration in den Alltag zu der Gefahr, Gesellschaft totalitär werden zu lassen. Die vermeintliche Demokratisierung des kulturellen Sektors gleicht tendenziell eher einer Ökonomisierung, in der Kultur, zweckentfremdet, nach wirtschaftlichen Interessen organisiert wird. Dies führe zu einer Einengung der Möglichkeiten sowie der Erfahrung im Umgang mit kulturellen Gütern, die die Konsumenten in zunehmendem Maße an die herrschenden Bedingungen binde.
Neben dem skizzierten Spannungsverhältnis von Kultur und Zivilisation beschreibt Marcuse ein weiteres, jedoch veraltetes Spannungsfeld im akademischen Bereich zwischen den Naturwissenschaften und Geistes- und Sozialwissenschaften. In gleichem Maße wie auf Ebene der Wissenschaft „alles, was Metaphysik genannt werden kann“ verworfen wird und die Methoden und Begriffe der verschiedenen wissenschaftlichen Bereiche einander angeglichen werden, tendiere die technologische Zivilisation dazu, die „transzendenten Ziele der Kultur […] zu beseitigen, […] die gegenüber den gegebenen Formen der Zivilisation antagonistisch und fremd waren“ [vi]. Durch die Industrialisierung verändere sich gleichsam der Gehalt der Kultur, sie wird affirmativ und verhilft dazu, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Der Wahrheitskern der Kultur, die Negation und Absage der „institutionalisierten Zerstörung der menschlichen Möglichkeiten“ [vii] im Bestehenden, gehe somit verloren.
Nach der Darstellung der Kultur im gegenwärtigen gesellschaftlichen Stadium rekurriert Marcuse erneut auf ihre Position vor ihrer, wie ich es nennen möchte, Zivilisierung. Der Gehalt der traditionellen Kultur sei deshalb so entfremdet von der Sphäre der Zivilisation gewesen, weil sie sich in einer nichtoperationellen Dimension befand, durch die sie nicht von der Wissenschaft und Gesellschaft im Sinne einer Festigung etablierter Verhältnisse nutzbar gemacht wurde. Die Elemente der Kultur seien indes gerade dadurch gekennzeichnet, nicht auf das Verhalten bezogen zu sein, sondern auf das Ganze der gesellschaftlichen Organisation zu zielen. „Infolge ihrer Trennung vom täglichen Kampf ums Dasein konnte Kultur den geistigen Raum schaffen und erhalten, in dem kritischen Überschreiten, Opposition und Absage sich entfalten konnten[1]“[viii]. Zwar bestehe diese Form der ‚höheren‘ Kultur immer noch, den Menschen, den sie nun zugänglich ist fehle jedoch die nötige Empfänglichkeit für ihren Erkenntnisgehalt. Indem die Wahrheiten der Kultur auf diese Weise verfälscht werden, würden sie problemlos in das bestehende System integriert werden. Hieraus folgt, dass die „Spannung zwischen ‚Sollen‘ und ‚Sein‘, […] Freiheit und Notwendigkeit“ aufgehoben wird und sie nicht mehr auf eben jenen Konflikt und damit auf die Veränderung des Ganzen zielt, sondern auf das Verhalten umgepolt wird: Kultur wird „ein Vehikel der Anpassung“ [ix].
Durch das veränderte Verhältnis von Kultur und Zivilisation aufgrund der Stellung der Wissenschaft und des technischen Fortschritts im gegenwärtigen gesellschaftlichen Status quo verändern sich, so Marcuse, gleichsam die Bedürfnisse und Vorstellungen der Menschen. Die freie Zeit, die sie nach Beendigung des Arbeitstages genießen, füllen sie mit Aktivitäten, durch die sie ihre eigene Unterdrückung reproduzieren. So folgert Marcuse, dass gerade „die herrschende demokratische Kultur […] Heteronomie unter der Maske der Autonomie [fördert], die Entwicklung der Bedürfnisse unter der Maske ihrer Beförderung [hemmt] und Denken und Erfahrung unter dem Vorwand, sie überall zu erweitern und weithin auszudehnen [beschränkt] [x].Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass Marcuse sich keineswegs gegen eine substantielle Demokratisierung von Kultur ausspricht, seine Kritik richtet sich vielmehr gegen die Verkehrung einer scheinbaren Demokratisierung in ihr Gegenteil: Statt der Autonomie wächst die Heteronomie der Menschen im gesellschaftlichen Prozess. Um diesem Trend der Entwicklung der Kultur entgegenzuwirken schlägt Marcuse eine Neubestimmung der Kultur vor. Diese Neubestimmung fungiert indes eher strategisch und würde der herrschenden Entwicklung entgegentreten, indem sie eine Befreiung von den bestehenden Werten anstrebe und auf die Entwicklung neuer, antagonistischer Begriffe und Methoden ziele [xi].
So treffend die Kritik an der Nivellierung der Kultur ist, kommt Marcuse zu einer fragwürdigen Schlussfolgerung. Im Zuge seiner Neubestimmung der Kultur schlägt er nämlich die „Einrichtung von ‚Elite‘-Universitäten“ [xii] vor. Entsteht dadurch aber nicht die Gefahr, dass sich die von der Studierendenbewegung kritisierte Privilegienstruktur gerade fortsetzt oder neu entwickelt, in der der Zugang zu kultureller Bildung nur einigen Wenigen möglich ist? Um eine solche Entwicklung zu vermeiden und die Möglichkeit auf eine partizipative und radikal demokratische Auslegung hinsichtlich des Zugangs zu kultureller Bildung ins Auge zu fassen, scheint ein Blick auf die Überlegungen Antonio Gramscis (1891-1937) ratsam. Antonio Gramsci, Mitbegründer der Partito Comunista Italiano und marxistischer Philosoph, stellte sich in seinen theoretischen Schriften unter anderem die Frage, auf welche Weise gesellschaftlicher Wandel als Befreiung von Unterdrückung möglich ist. In diesem Zusammenhang gibt er dem kulturellen Bereich eine entscheidende Bedeutung. Hierbei geht es ihm weniger um eine Neubestimmung, als vielmehr um einen neuen Umgang sowie die Entwicklung der Kultur. Zu beachten ist ferner, dass es sich im Unterschied zu Herbert Marcuse bei Gramsci um einen machtanalytischen, handlungstheoretischen Kulturbegriff im Sinne von kulturellen Deutungsmustern und symbolischen Ordnungen handelt, dessen Feld stets umkämpft ist.
Die hegemonial[2] führende gesellschaftliche Gruppe kann nach Gramsci ihre Macht nicht allein durch die Ausübung von Gewalt und Zwang über den Staatsapparat sichern, es brauche zusätzlich eine Verankerung ihrer Werte und Vorstellungen in der Zivilgesellschaft [xiii]. Ein Mittel zur Verbreitung der Werte und Vorstellungen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse stabilisieren, sind die kulturellen Aktivitäten und Produkte in Filmen, der Musik oder dem Theater. Insofern prägen sie den „Alltagsverstand“ der Menschen. Alltagsverstand im Sinne Gramscis meint gemeinhin die bestehenden, unhinterfragten Vorstellungen und Denkweisen der Menschen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Diese Denkweisen sind keine statischen, sondern dynamische, historisch und gesellschaftlich bedingte Wissensformen [xiv].
Um die Hegemonie der herrschenden Gruppe anzufechten gilt es, wie Peter Mayo treffend beschreibt, den Fokus auf „das Terrain, das [diese] unterstützt, nämlich die Zivilgesellschaft, die als Kampfplatz zu begreifen ist“ [xv], zu lenken. Genau hier erfährt die Kultur ihre entscheidende Rolle zur Umgestaltung der sozialen und gesellschaftlichen Organisation. Im Sinne einer herrschaftskonformen Erziehung der Menschen lassen sich die kulturellen Hegemonieverhältnisse gesellschaftlicher Zusammenhänge immer auch als pädagogische Verhältnisse denken. Ähnlich wie Marcuse erkennt auch Gramsci das emanzipatorische Potenzial, die Wahrheiten der ‚höheren‘ Kultur. Im Sinne einer kritischen Wiederbelebung plädiert Gramsci ferner für eine Auseinandersetzung mit eben diesen Kulturelementen [xvi]. Es sollte hierbei aber nicht bloß auf die kritische Aneignung bestehender Kultur gezielt werden, sondern Aufgabe von Schriftsteller:innen, Künstler:innen, Kulturschaffenden wäre, so die Vorstellung der kommunistischen Parteiaktivisten, für eine Fortsetzung der Literatur und Kunst zu sorgen, die „ein Repertoire an Meinungen, Vorstellungen und Bedeutungen beinhalten [und die] Mitglieder der Arbeiterklasse für das revolutionäre Projekt“ [xvii] vorbereiten.
Zur Entwicklung kritisch denkender Subjekte, die für eine solche Aneignung und Entwicklung der Kultur empfänglich sind, bedürfe es hierzu allerdings einer anderen Form des Lehrens und Lernens, nämlich eines dialogischen Verhältnisses von Lehrenden und Lernenden. In den Worten Gramscis: Es bedarf eines Verhältnisses, in dem „jede:r Lehrer:in immer auch Schüler:in und jede:r Schüler:in Lehrer:in ist“ [xviii]. Gramsci verweist an diesem Punkt auf die Rolle organischer Intellektueller, die sich auf dem Kampfplatz der Zivilgesellschaft mit den subalternen Gruppen verbünden müssen. Erst hierdurch werde es möglich, die unhinterfragten Werte, Vorstellungen und Wünsche der ausgebeuteten und unterdrückten Menschen in kritische, das bestehende System transzendierende umzuformen. Ferner könne es dadurch gelingen, dem von Gramsci formulierten Anspruch an Kultur gerecht zu werden: „Organisation, Disziplin des eigenen Ichs, Besitz der eigenen Persönlichkeit, Eroberung eines höheren Bewußtseins, mit dessen Hilfe es gelingt, den eigenen geschichtlichen Wert zu begreifen, die eigene Funktion im Leben, die eigenen Rechte und Pflichten“ [xix], – kurz: eine Kultur, in der das denkende Subjekt kein Feind mehr ist.
Kraft einer Synthese als wechselseitigem Verhältnis von Intellektuellen, die mit kritischen, antagonistischen Begriffen und Methoden der bestehenden Gesellschaft entgegentreten, und den subalternen Gruppen, die auf diese Weise ihrer gesellschaftlichen Position bewusst werden und ihr vermeintlich individuelles als kollektives Schicksal begreifen lernen, kann eine gegenhegemoniale Kraft entwickelt werden. Zentral für eine solche Entwicklung ist die kritische Auseinandersetzung mit Kulturelementen, die auf die Möglichkeit einer Gesellschaft unter wahrhaft menschlichen Bedingungen verweisen, sowie die Schaffung neuer kritischer Kulturgehalte.
Hier schließt sich der Bogen von Gramscis zu Marcuses Neubestimmung der Kultur: Denn mit Gramscis Strategie gegenhegemonialer Kulturarbeit ließe sich auch auf die von Marcuse kritisierte Obszönität eines gegenwärtigen gesellschaftlichen Systems aufmerksam machen werden, die über die notwendigen technischen und wissenschaftlichen Mittel zur Realisierung eines freien und befriedeten Daseins schon längst verfügt. Die Verwirklichung einer „Welt ohne Ausbeutung, Elend und Angst“ – darin würden Marcuse und Gramsci zweifellos übereinstimmen – ist längst möglich: „Sie wäre eine Zivilisation, die zur Kultur geworden ist“ [xx].
Über den/die Autor*in: Adrian Stender ist Student der Philosophie und Politikwissenschaft im 5. Fachsemester, seine fachlichen Interessen kreisen um die Kritische Theorie, sowie die politische und kulturelle Bildung.
i Marcuse 1965, S. 155
ii Marcuse 1965, S. 158
iii Bermerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur (Remarks on a Redefinition of Culture), in: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences, Winter 1965
iv Vgl. Kant 1790, B392
v Marcuse 1965, S. 150
vi Ebd., S. 151
vii Ebd., S. 152
viii Ebd., S. 154
ix Ebd., S. 155
x Ebd., S. 159
xi Vgl. ebd., S. 161
xii Ebd., S. 161
xiii Vgl. Mayo 2007, S. 40
xiv Vgl. Bellermann 2021, S. 140f.
xv Mayo 2007, S. 43
xvi Vgl. ebd., S. 57
xvii Ebd., S. 57
xviii Gramsci H10/11, §44, S. 1335
xix Gramsci 1916, S. 21
xx Marcuse 1965, S. 156
Literatur:
- Adorno, W. Theodor, Horkheimer, Max (1944). Kulturindustrie. In. Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 5: Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940-1950. Hrsg von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2014.
- Bellermann, Johannes (2021). Gramscis Politisches Denken. Eine Einführung. Stuttgart: Schmetterling Verlag GmbH.
- Gramsci, Antonio (1916). Sozialismus und Kultur. In. Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis, Eine Auswahl. Hrsg. von Christian Riechers, Frankfurt am Main: Fischer Verlag.
- Gramsci, Antonio (2012). Gefängnis Hefte Band 6. Hrsg. von Klaus B.ochmann und Wolfgang Fritz Haug. Hamburg: Argument Verlag.
- Kant, Immanuel (1790). Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
- Marcuse, Herbert (1965). Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur. In: Kultur und Gesellschaft 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
- Mayo, Peter (2007). Politische Bildung bei Antonio Gramsci und Paulo Freire. Perspektiven einer verändernden Praxis. Übers. von Uwe Hirschfeld. Hamburg: Argument Verlag.
[1] Beachtet werden muss hierbei, dass Marcuse jede romantische Missdeutung abweist, indem er auf die privilegierte Position derer verweist, die sich dieser Form der Kultur bemächtigen konnten, die für die Armen leere Worte darstellten.
[2] Der Begriff der Hegemonie erscheint in Gramscis Schriften in verschiedener Verwendung (vgl. Bellermann 2021, S. 110), in meinen Ausführungen verwende ich den Begriff im Sinne der Herrschaft einer gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse gegenüber einer anderen, unterdrückten Gruppe oder Klasse.