Vom Bolzplatz zum »Lernort Stadion«

Vom Bolzplatz zum »Lernort Stadion«

Fußball, dass ist ein Schlagwort für Spaß, Erfolg, Geld, Politik, Kampfgeist, Fairplay, Korruption und auch – zumindest wenn man Felix Magath folgt – für extraordinäre Herrenfrisuren. Eher selten spielen bei solchen Zuordnungen die Potenziale und Möglichkeitsräume für Kritische Bildung und Empowerment eine Rolle, die der Fußball zu bieten hat. Wenn überhaupt derartiges im populären Diskurs verhaftet, dann meist im Kontext von Interviews mit vermeintlichen Fußball-Philosophen à la César Luis Menotti, Volker Finke oder Ewald Lienen oder im Zuge von Vereinsportraits über die vermeintlich „etwas anderen Vereine“ wie FC St. Pauli, SC Freiburg oder Union Berlin. Im universitären Kontext war der Fußball als Multiplikator kritischer politischer Bildung hingegen lange Zeit unterbeleuchtet.

Erst seit den 2000er Jahren, so scheint es wenigstens im deutschsprachigen Diskurs, kommt überhaupt ein vermehrtes intellektuelles Interesse am politischen Diskurs rund um den Volkssport Fußball auf. Der Philosoph Wolfram Eilenberger verirrte sich bereits mehrfach in den sonntaglichen Fußballtalk Doppelpass, diskutierte dort über Moral und Verantwortung im Fußball-Business und auch der Wissenschaftstheoretiker Hoyningen-Huene wendet sich dem Fußball zu und versucht zu verstehen, was die Faszination begründet. Zweifellos könnte man diese Liste einzelner involvierter Wissenschaftler*innen nun ausbauen, doch bleibt auffällig, dass auch bei gestiegenem Interesse die Anzahl an Tagungen und Symposien in den vergangenen Jahren verhältnismäßig gering erscheint. Am 17. Februar 2022 fand nun das erste wissenschaftliche Symposium von Lernort Stadion statt, einem Dachverband für Lernzentren an Fußballprofistandorten des gesamten Bundesgebiets, die politische Bildung für Jugendliche ins Stadion bringen möchten. Im Zuge dieser Tagung trugen mit Simon Rettenmaier und Dominik Novkovic auch zwei Mitglieder der philosophike-Redaktion vor. Hinter dem Vortragstitel „Bolzplatzreflektionen: Zwischen Dreisatz, Deutsch und Demokratie!“ verbarg sich eine Analyse der Potenziale demokratiefördernder Kinder- und Jugendarbeit am Praxisbeispiel Streetbolzer e.V. Kassel.

Mit dem Ende 2020 erschienenen 16. Kinder- und Jugendbericht wurde die zentrale Bedeutung außerschulischer demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter betont und als aktuelle gesellschaftspolitische Herausforderungen thematisiert. Passgenau zu dieser Forderung rückt die mit der Tagung verbundene Frage nach fussballbezogenen demokratiepolitischen Bildungsangeboten und -anlässe in den Fokus des Diskurses um politische Bildung. Wie Benedikt Sturzenhecker in seinem Eingangsbeitrag hervorhob, beschränkt sich politische Bildung nicht auf das Aufgabenfeld Schule. Dafür ist es aber erforderlich ein erweitertes – nicht schulfixiertes – Verständnis von politischer Bildung zu reklamieren und vermeintlich „politik- und bildungsferne“ Kinder und Jugendliche aus ressourcenarmen Sozialmilieus als kompetente Akteur*innen bzw. Co-Produzent*innen in Bildungsprozessen anzuerkennen. Diese Grundsatzposition wurde durch die verschiedenen Panels  anhand von empirischen Praxisbeispielen unterfüttert.

Neben der Präsentation verschiedener Praxismodellprojekte im Bereich fussballbezogener politischer Bildungsangebote lag der Fokus des Beitrags von Simon Rettenmaier und Dominik Novkovic zum Thema „Bolzplatzreflexionen: Zwischen Dreisatz, Deutsch und Demokratie! Demokratiefördernde Kinder- und Jugendarbeit am Praxisbeispiel Streetbolzer e.V. Kassel“ auf den demokratiekonstitutiven Bildungspotenzialen eines nicht-kommerzialisierten Fußballspiels bzw. der in der sozialen Lebenswelt verankerten Bolzplätze, die von den Referent*innen als „wilde“ Orte des sozialen und politischen Lernens im Kindes- und Jugendalter bezeichnet werden. Damit muss dem Bolzplatz eine sozial-pädagogische Eigenqualität zugesprochen werden. Angeknüpft wird sowohl an die habitualisierten Verhaltens- und Bewältigungsstile junger Menschen als auch an die supra-nationalen-kulturellen Identitätskonstruktionen, damit also an die „generativen Themen“ (Paolo Freire) von Kindern und Jugendlichen, die zum Gegenstand einer kritischen politischen Bildungsarbeit gemacht werden.  Der Bolzplatz beinhaltet zudem eine alltagspolitische Dimension, wonach sich insbesondere Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit benachteiligendem sozio-ökonomischen Hintergrund als gleichberechtigte politische Subjekte erfahren und ausprobieren können. Konkrete Beispiele aus der jugend(sozial-)arbeiterischen Alltagspraxis im Kontext der „Streetbolzer in Kassel“ verdeutlichten den Facettenreichtum und die Vielschichtigkeit einer sozialraumorientierten pädagogischen Arbeit, die ihren inhaltlichen Schwerpunkt nicht auf Prävention legt und somit ihre Adressat*innen per se als Gefährder*innen klassifiziert, sondern politische Bildung als Bildung des sozialen Gemeinwesens im Sinne einer Ursprungsform des Politischen identifiziert. Dabei stellen die Autor*innen theoretisch-sozialpädagogische Bezüge zum internationalen „Community-Organizing-Ansatz“ (Saul Alinsky) und einer „politischen Pädagogik der Milieubildung“ (Lothar Böhnisch) her, die in den anschließenden Diskussionen produktiv von Seiten der Zuhörer*innen aufgenommen und diskutiert wurden.

Praesentation_Bolzplatzreflexion

Abgerundet kann gesagt werden, dass eine gelebte „partizipative Demokratie“ (Michael Vester) vor dem Hintergrund einer Dynamisierung von sozialer Ungleichheit, Prekarität und Kinder-/Jugendarmut im neoliberal entfesselten Kapitalismus in besonderer Weise von der Experimentierfreudigkeit und Parteilichkeit einer sich politisch verstehenden bildsamen Jugend(sozial)arbeit abhängt. In diesem Sinne: „Bildung ist Alles!“ (Heydorn).

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