„Nicht mit Wut!“, schallt es durch den Raum. Ein neunjähriges Kind bearbeitet seine Deutsch-Hausaufgaben. Es ist inzwischen frustriert: oft schon hat es sich verschrieben. Musste immer wieder den Tintenkiller gebrauchen. Das Ganze wird langsam unsauber. Seit gefühlten Ewigkeiten sitzt es vor der Aufgabe, aber es will nicht gelingen. Das Kind verschreibt sich immer wieder, es wird wütend. „Nicht mit Wut!“ Die Mutter insistiert: „Nicht mit Wut!“ Sie wiederholt: „Nicht mit Wut!“. Sie insistiert wiederholt: „Nicht mit Wut!“
Ich frage mich, warum sie so handelt. Ist es nicht diese Äußerung „Nicht mit Wut!“, die die benannte Emotion auslöst? Die Wiederholung „Nicht mit Wut!“, die diese ins unermessliche steigert, sodass sie „Nicht mit Wut!“ – ja eigentlich ewig – wiederholen muss?
„Nicht mit Wut!“ Das Kind fängt an zu weinen. Es ist tapfer, es schreibt weiter. Es ist sehr wütend. Die Mutter wiederholt „Nicht mit Wut!“ und wiederholt „Nicht mit Wut!“ mit noch größerem Nachdruck, wird selbst wütend. Ich weiß nicht, wie die Szene ausgegangen ist.
Später in der Woche versuche ich mich an einem Zauberwürfel. Auch ich bin nach vielen Versuchen, diesen wieder in seinen Ursprungszustand zurückzuversetzen, etwas frustriert; nicht so sehr wie das Kind über seinen Hausaufgaben – ich muss nicht weinen – nur ein bisschen. Ich äußere, dass etwas mit der mir vorliegenden Lösung nicht stimmen könne, da ich mich an sie hielte, es aber trotzdem nicht gelinge. Mir wird vorgehalten: „Nicht mit Wut!“ Es könne mir so ja nicht gelingen. „Nicht mit Wut!“
Ich war auf den Würfel konzentriert und in dem Sinne nicht wirklich wütend, aber man kennt ja den Punkt, an dem man sich einfach irgendwo ein wenig beschweren muss; ein bisschen sanftes Nörgeln, um sich mitzuteilen. Doch wer war es, der mir vorschlug „Nicht mit Wut!“? Es war der erwachsene Sohn der am Anfang erwähnten Mutter. Ich spreche ihn also darauf an, was er von meiner Theorie vom „Nicht mit Wut!“ hält, dass es eben diese Äußerung „Nicht mit Wut!“ ist, die einen wütend macht und drohe ihm scherzhaft, dass auch ich noch wütend werde, wenn er noch einmal sage „Nicht mit Wut!“
Aber er versteht es nicht. Er denkt, ich meine es ernst und sei jetzt richtig wütend. Er ist beleidigt und wirft mit erneut vor, ich sei bei der Bearbeitung des Zauberwürfels wütend. Er ist nun wütend. Er versteht nicht.
Nach alldem „Nicht mit Wut!“ frage ich mich: Was ist da los? Was hat es mit diesen „Nicht mit Wut!“-Wiederholungen auf sich? Was hätte der Psychoanalytiker Lacan zu „Nicht mit Wut!“ gesagt?
„Nicht mit Wut!“ ist offensichtlich eine Forderung, ein sich wiederholender Anspruch. Sich immer wiederholende Ansprüche sind getrieben vom Begehren. Es ist das Wesen des Begehrens, das es nicht erfüllt werden kann. Das Begehren ist das Begehren des Anderen („le désir de l’homme est désir de l’Autre“) [1]. Auf der einen Seite ist es das Subjekt, das begehrt, vom Anderen begehrt zu werden (wobei sein Begehren auch verstörend sein kann), während es auf der anderen Seite das eigene Begehren auch das des Anderen ist. Das eigene Begehren ist durch das Begehren des Anderen bestimmt (bzw. steht in Wechselbeziehung damit), der für Lacan allerdings nicht nur der Nächste sein kann, sondern auch der große („dezentrierte“) Andere, Lacans Bezeichnung für den anonymen Mechanismus der symbolischen Ordnung, der bei der Strukturierung des Begehrens mitwirkt (denn selbst wenn das Begehren transgressiv ist und die sozialen Normen verletzt, stützt sich diese Überschreitung auf das, was sie überschreitet) [2]. Es ist ja wahrscheinlich im Sinne des Kindes, nicht wütend zu sein, um die Aufgaben endlich korrekt abschließen zu können. „Nicht mit Wut!“, das möchte die Mutter auch. Sie will helfen; sie begehrt: „Nicht mit Wut!“ Sie sagt: „Nicht mit Wut!“ Mit welcher Art des Begehrens hat man es hier zu tun?
Und weitere Fragen drängen sich mir auf: Ist „Nicht mit Wut!“ ein Symptom [3]? Ist „Nicht mit Wut!“der zutage tretende, mysteriöse, lacansche unäre Zug (bei Freud noch „einziger Zug“[4])?
Nach Freud ist es das Genießen, die jouissance, auf das die Wiederholung abzielt (auch von „Nicht mit Wut!“) [5]. Dieses soll mithilfe des „Nicht mit Wut!“ generiert werden, doch scheitert das Projekt. Darin gibt es einen ständigen Schwund an Genießen (Kierkegaard traf verwandte Aussagen [6]). Diese Leerstelle, auf die das Projekt ausgerichtet ist und die sich durch dessen Scheitern aufrechterhält, nennt Lacan das Objekt a. Um diesen Repräsentanten des Verlusts herum sind die Phantasmen organisiert.
Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek schreibt, die Wucherung von Objekten a erzeuge laut Lacan ein Mehr-Genießen (plus-de-jouir), das jedoch niemals an die Sache selbst heranreiche (das Begehren kann niemals erfüllt werden). Der Mangel fällt so mit dem Exzess zusammen, der zugleich nur ein „bleicher Schatten“ ist, ihm fehlt „irgendwie die substantielle Dichte des realen Dings“ [7]. Die Mutter würde dementsprechend also versuchen, den Mangel, den sie eigentlich durch das „Nicht mit Wut!“ zu überwinden wollen scheint, aufrechtzuerhalten, um weiterhin „Nicht mit Wut!“ im Dienste ihres Mehr-Genießens fordern zu können. „Nicht mit Wut!“ ist somit das Genießen jenseits des Lustprinzips – doch bleibt es im Kern gleichzeitig unerreicht.
Lacan fragt nach der Identifizierung dieses Genießens. „Nicht mit Wut!“ wird wiederholt? „Nicht mit Wut!“ muss auf irgendeine Weise mit dem Genießen identifiziert werden. Diese Identifizierung des Genießens ist der unäre Zug. Der unäre Zug ist elementar, er ist die Grundlage der Signifikanten [8]. Er bezieht sich auf die gesprochene Sprache. Auf: „Nicht mit Wut!“ [9]
Tritt er im „Nicht mit Wut!“ offensichtlich zutage? Ich frage mich auch; hat sich hier bei „Nicht mit Wut!“ die Grundlage eines Signifikanten von der Mutter auf den Sohn übertragen? Wiederholt der als Symptom „Nicht mit Wut!“? Schließlich ist er ja offensichtlich durch einen Signifikantenapparat determiniert, wobei das ganze mit dem Genießen zusammenhängt?
Und wieso ist es bei „Nicht mit Wut!“ so, dass entgegen dem tatsächlichen Wunsch, durch die Aussage ja eben das Gegenteil erzeugt wird? Sodass immer wieder und heftiger gefordert werden kann „Nicht mit Wut!“ Ein klassischer Versuch zur Aufrechterhaltung des (eigentlich falschen, unzureichenden Mehr-) Genießens? Daher der Wiederholungszwang?
Fragen über Fragen. Ich habe gehört, man sollte Nicht mit Wut darangehen.
Über die Autorin: Jasmin Nestler (geb. 2001) beendet gerade an der FSU Jena ihren Bachelor in Philosophie und Sprechwissenschaft & Phonetik und studiert daneben im Doppelstudium auch Indogermanistik und Kunstgeschichte & Filmwissenschaft. Zu ihren vielen Interessengebieten zählen besonders die Praktische und Politische Philosophie sowie die lacanianische Psychoanalyse.
[1] Lacan, Séminaire 11 : Fondements de la psychoanalyse, 11. .März 1964, http://staferla.free.fr/S11/S11%20FONDEMENTS.pdf (25.07.2022). Zum Begehren siehe auch Nemitz, Rolf: Auf dem Flohmarkt. https://lacan-entziffern.de/anspruch/auf-dem-flohmarkt-begehren/ (06.05.2021)
[2] Vgl. Žižek, Slavoj: Lacan. Eine Einführung. 6. Auflage. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2008. S. 61.
[3] „Das Symptom lässt sich nicht anders definieren als durch die Art und Weise, wie ein jeder das Unbewusste genießt, insofern das Unbewusste ihn bestimmt.“ Seminar 22, RSI, 18. 2. 1975, Version Staferla S. 119, Rolf Nemitz’ Übersetzung; vgl. Kleiner-Übersetzung S. 37. zitiert nach Nemitz, Rolf: Mein Symptom. https://lacan-entziffern.de/mein/mein-einziger-zug-forts/ (06.05.2022) Das Symptom muss auf einer Determination durch das Unbewusste (im Sinne eines Signifikantenapparats, eines „Wissens“) beruhen, die mit dem Genießen verbunden ist. Vgl. Ebd.
[4] Vgl. Nemitz, Rolf: Unärer Zug (II): der Grund der Wiederholung. https://lacan-entziffern.de/geniessen/einziger-zug-lacans-verwendung-des-begriffs-trait-unaire-seminar-17/ (06.05.2022) „Der unäre Zug ist die Grundlage der Wiederholung. Inwiefern? Der unäre Zug ist die Erinnerung an den Einbruch eines Genießens (Freud spricht von der „Dauerspur“ einer „Erregung“). Der unäre Zug erinnert nicht nur an ein Genießen, er ermöglicht auch ein Genießen jenseits des Lustprinzips. Denn der unäre Zug ist der Ursprung des „Wissens“ (des Unbewussten als Verknüpfung von Signifikanten), und dieses „Wissen“ dient dem Genießen (das Unbewusste hat die Funktion der Triebbefriedigung). Durch die Arbeit dieses Wissens – Verdichtung und Verschiebung, Metapher und Metonymie – wird tatsächlich ein Genießen jenseits des Lustprinzips erreicht, „Ersatzbefriedigung“ nennt es Freud, etwa die mit einem Symptom verbundene Erregung. Dieses Genießen jenseits des Lustprin[z]ips ist jedoch bescheiden – das in der Wiederholung angezielte Genießen kann nicht erreicht werden. Die Wiederholung erzeugt also letztlich einen Verlust an Genießen. Sie reproduziert beständig den Verlust, den sie aufheben will. Der Repräsentant dieses irreduziblen Verlusts ist das Objekt a, das Partialobjekt, um das die Phantasmen herum organisiert sind.“
[5] Freud, Siegmund: Jenseits des Lustprinzips. In: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hrsg. von Anna Freud. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1940 ( = 13. Band).
[6] Bei Lacan ist die Wiederkehr um, nicht mehr nur die des Verdrängten, sondern die aller Verdrängung vorgängige Grundbewegung des Unbewussten selbst, sodass er einen eigenen Zugang zur Beziehung von Wiederholungszwang und dem spekulativen Todestrieb findet. Die mit ihrer zirkulären Bewegung kontrastierende Wiederholung ist in der Tradition Kierkegaards ein auf das je Neue und Andere ausgerichteter Prozess. Der zwanghafte Modus der Wiederholung wird an den schöpferischen bei Lacan tendenziell angeglichen, wo er gewissermaßen zum Agenten der subversiven Macht des Todestriebes wird, indem er den Todestrieb bleibend im Psychischen verankert. Vgl. Hühn, Helmut; Theunissen, Michael: Wiederholung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel u.a. Bd. 12. Basel: Schwabe 2004, Sp. 738-746.
[7] Žižek, Slavoj: Die gnadenlose Liebe. Frankfurt am Main: suhrkamp 2001. S. 72.
[8] Der von Saussure übernommene Signifikant stellt die Ausdrucksseite eines sprachlichen Zeichens dar, eine Eigenschaft, eine Markierung, die das Subjekt repräsentiert vgl. Žižek, Slavoj: Lacan. Eine Einführung. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer 2008. S. 49. Lacan bezeichnet das Reich der Signifikanten als das Symbolische. Diese Ordnung, die jedoch keinesfalls als ordentlich oder geordnet zu verstehen ist, umfasst alle impliziten wie expliziten Regeln, Gesetze und Verbote und liefert den Hintergrund der gemeinsamen Lebenswelt, das komplexe Netzwerk von Regeln und anderen Voraussetzungen der Redeaktivität sowie des Verhaltens im Sozialgefüge. Vgl. ebd., S. 19. Das Symbolische nimmt einen festen Platz in Lacans Triade RSI (welche die drei Ordnungen Reales, Symbolisches, Imaginäres umfasst) ein.
[9] Vgl. Nemitz, Rolf: Unärer Zug (II): der Grund der Wiederholung. https://lacan-entziffern.de/geniessen/einziger-zug-lacans-verwendung-des-begriffs-trait-unaire-seminar-17/ (06.05.2022)