Von der Kritik zur Evaluation

Von der Kritik zur Evaluation

“Sie [die Bildung] ist zur sozialisierten Halbbildung geworden, der Allgegenwart des entfremdeten Geistes.” [1]

Theodor W. Adorno

Das Sommersemester 2020 stellt in vielerlei Hinsicht eine Umstellung im Universitätsbetrieb der BRD dar. In Folge des verstärkten Ausbruchs der Corona-Pandemie schließen ab dem 15. März bundesweit Universitätsgebäude; Veranstaltungen finden in Form von Vorlesungsvideos, Zoom-Konferenzen, Online-Chat- oder Online-Aufgaben-Formaten statt.

Für Lehrende bedeutet das oftmals unbezahlte Mehrarbeit im „Home-Office“ auf Grund der Anforderung, ihre Forschung unter (zusätzlich) widrigen Bedingungen fortzusetzen und ihre Lehrformate innerhalb kurzer Zeit gemäß der Ratschläge der Uni-Verwaltung umzuarbeiten. Während für viele Studierende die Umstellung angesichts finanzieller Nöte und/oder der Anpassung an neue Lernformate ebenfalls von Mehrarbeit geprägt ist, scheint das „Online-Semester“ gleichzeitig auch „Vorzüge“ zu bergen [2]. Denn die neuen Lehrformen bringen Studierenden die Möglichkeit, bequem und flexibel bzw. individualisiert Veranstaltungen auch ohne aktive Teilnahme besuchen zu können. Ein Großteil jedoch zeigt sich angesichts der Mehrarbeit und dem fehlenden Austausch mit Dozierenden und Kommiliton*innen unzufrieden. Das Resultat sind oftmals Online-Seminare (geprägt von technischen Störungen), in denen Lehrende vortragsähnlich die jeweiligen „Lernziele“ zu vermitteln suchen, während die (wenigen) teilnehmenden Studierenden ihre Bildschirme ausschalten und stumm den Worten der Dozierenden folgen. „Bildung“ wird so stärker denn je „begrenzt auf ein Wissen, das den Individuen äußerlich bleibt, eine Sachkenntnis, eine Information.“ [3]

Im Folgenden werde ich knapp die angedeuteten Digitalisierungstendenzen im akademischen Betrieb näher beleuchten und untersuchen, inwiefern sie mit Marcuses These des Eindimensionalisierungsprozesses in Gesellschaft und Wissenschaft übereinstimmen. Schon 1964 stellt Herbert Marcuse in seinem One-Dimensional-Man die Zeitdiagnose einer allgegenwärtigen Eindimensionalität im Denken in den „fortgeschrittenen Industriegesellschaften“ auf. Darunter versteht er v.a. die Einebnung der Differenz zwischen Sein und Sollen – den Verlust der transzendierenden Kraft der Negation des Bestehenden, wodurch jegliche Kritik paralysiert wird.[4] Die sozialen bzw. technologischen Kontrollen erscheinen in einem Maße rational, „daß aller Widerspruch irrational erscheint und aller Widerstand unmöglich“[5] Das Individuum sei – vermittelt durch technischen Fortschritt [6] – nicht mehr im Stande, die eigene Knechtschaft zu erkennen, „wahre und falsche Bedürfnisse“ voneinander zu unterscheiden und sich seines eigenen Leids bewusst zu werden. Die Entfremdung wird „gänzlich objektiv“; „das Subjekt, das entfremdet ist, wird seinem entfremdeten Dasein einverleibt“[7]. Dieser Prozess werde auch und vor allem im Wissenschaftsbetrieb durch eine methodische Verengung auf operationalisierbare Tatsachen – den „totalen Empirismus“ – befördert [8]. Diese Diagnose teilt auch Adorno in seiner Theorie der Halbbildung. Zum einen bilde sich eine „selbstgenügsame“ „autonome Geisteskultur“ heraus [9]; es kommt zu einer „Verselbstständigung des Geistes gegenüber der Gesellschaft“ [10] Dies führe jedoch wiederum dazu, dass der „Doppelcharakter“ von Kultur (Geisteskultur und gesellschaftliche Lebensverhältnisse) aufgelöst werde. So werde gerade durch den fehlenden gesellschaftlichen Bezug der Kultur „einseitig das Moment der Anpassung hervorgehoben“ [11] Anpassung an das gesellschaftlich Gegebene werde „allherschend, ihr Maß das je Vorfindliche. Sie verbietet, aus individueller Bestimmung übers Vorfindliche, Positive, sich zu erheben“ [12]

Auch wenn der historische Kontext, in dem Marcuse sein viel rezipiertes Werk veröffentlichte, sich deutlich unterscheidet von dem derzeitigen, sollte seine Kernthese der Eindimensionalität nicht ohne Weiteres aufgegeben werden. Marcuses Argumentation ist stark geprägt von der fordistischen Akkumulationsweise, die einen gewissen Massenwohlstand auf der Basis einer standardisierten Massenproduktion ermöglichte, sowie von der ‚konvergierenden‘ Bipolarität im ‚Kalten Krieg‘. Beides ist im Zuge der ‚neoliberalen Transformation‘ einerseits und des Zerfalls der Sowjetunion andererseits so nicht mehr vorzufinden. Dennoch scheint die Kernthese der Liquidierung von Kritik im alternativlos gehandelten Kapitalismus durch zunehmende soziale Kontrollen und Entfremdungsprozesse in Folge der fortschreitenden Technisierung, Automatisierung und Verwaltung – auch trotz oder vielmehr wegen des neoliberalen Versprechens auf Selbstverwirklichung [13] – sich zu bestätigen. In diesem Zusammenhang stehen nicht zuletzt neue Überwachungstechnologien, ein gigantischer kulturindustrieller Komplex sowie die Genese der „unternehmerischen Hochschule“, die zu weiten Teilen auf der Selbstverwirklichungsideologie aufbaut und das positivistische Paradigma verabsolutiert hat.

Letzteres wird in folgendem Zitat, mit dem im April diesen Jahres eine Statistik-Vorlesung eröffnet wurde, sinnbildlich deutlich. “Es ist die Zeit, mehr zu verstehen und sich weniger zu fürchten”. Der Gehalt dieser Aussage scheint vor dem Hintergrund der Möglichkeit einer viralen, die Meheit der Bevölkerung nicht (vollständig) greifbaren Bedrohung eindeutig: Die empirische Sozialforschung bietet dem Individuum – gerade wegen der Aussicht auf die „Digitalisierung“ des wissenschaftlichen Betriebs – den logischen Ausweg aus der „Unbildung“ sowie die Lösung für zentrale gesellschaftliche Probleme. Die Methode dafür sei die Erfassung des quantitativ messbaren Faktischen. Dabei wird jedoch jede Historizität des gesellschaftlich Gewordenen in seiner herrschaftsförmigen Grundbedingtheit ausgeblendet.[14] Wie auch Marcuse beschreibt Adorno das Unvermögen der positivistischen Wissenschaften, die eigene instrumentelle Beschränktheit zu erfassen. „Nur eine geradlinige und ungebrochene Vorstellung von geistigem Fortschritt gleitet über den qualitativen Gehalt der zur Halbbildung sozialisierten Bildung unbekümmert hinweg.“ [15]

Im Vordergrund dieser und der Mehrheit der universitären Lehrveranstaltungen stehen folglich die Vermittlung von (berufsvorbereitenden) ‚Kernkompetenzen‘ und von Wissen, welches in Form von Multiple-Choice-Abfragen getestet wird. So verkommt Bildung zu einem abrufbaren, messbaren Funktionswissen, einer Deskription von Tatsachen, das auf Instrumentalität und Nützlichkeit reduziert wird. „Erfahrung, die Kontinuität des Bewußtseins, in der das Nichtgegenwärtige dauert, […] wird ersetzt durch die punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemere Informiertheit, der schon anzumerken ist, daß sie im nächsten Augenblick durch andere Infomationen weggewischt wird.“ [16] Dies wird wie oben bereits beschrieben durch die Digitalisierung der Lehre zusätzlich verstärkt. In Online-Veranstaltungen, in denen Diskussion und Kritik der ‚Lerninhalte‘ nur begrenzt möglich ist, wird Wissen schlicht aufgenommen wie jeder andere kulturindustrielle Reiz in der ‚digitalen Welt‘. Der einzige Unterschied scheint darin zu bestehen, dass dieses Wissen abgefragt und benotet wird und diese Form der Halbbildung so „im Gegensatz zur bloßen Unbildung das beschränkte Wissen als Wahrheit verdinglicht.“ [17] Gerade durch die zunehmende Digitalisierung ist die „Vermassung und zunehmende Warenförmigkeit“ der Bildung [18] möglich geworden. „Kultur wurde vollends zur Ware, informatorisch verbreitet, ohne die zu durchdringen, die davon lernten.“ [19]

Diese Entwicklung, die Beschränkung von „Bildung“ auf Informiertheit und „Kompetenzerwerb“ in nahezu allen wissenschaftlichen Disziplinen ist in der BRD v.a. durch die Hochschulreformen ab den 1990ern manifestiert worden. „Von den Verteidigern des Status quo wird die Gelegenheit genutzt, die Hochschulen technokratisch derart zu reorganisieren, dass kritische Wissenschaft an ihnen keinen Ort mehr finden können soll. In diesem Sinne werden die Hochschulen als Unternehmen auf dem Wissensmarkt verstanden, Bildung als eine Investition, Studierende als Kunden.“ [20] Bildung wird zum Standortfaktor und „Fundament einer innovativen Wissensgesellschaft. Nützliches, ökonomisch verwertbares Wissen im globalen Wettbewerb ist zum Leitfaktor in der Beurteilung von Bildung geworden.“ [21] Im Zentrum der Reformen standen folglich die Standardisierung der Studiengänge und Universitätsabschlüsse zur Ermöglichung der internationalen Vergleichbarkeit von Universitäten zur Förderung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit auf dem globalen Bildungsmarkt. [22] In Folge dessen kam es zur Verkürzung der ‚Regelstudienzeit‘, zu neuen Akkreditierungsverfahren, zu einem massiven Ausbau des Verwaltungsapparats bei gleichzeitigen Kostenersparnissen durch die Prekarisierung des Lehrpersonals sowie zur Privatisierung von Hochschulen nicht zuletzt durch Drittmittelabhängigkeit und die Einbindung von Unternehmen in Bildungspolitik und Hochschulverwaltung. Die „Freiheit der Lehre wird zum Kundendienst erniedrigt und soll sich Kontrollen fügen“ [23]. Um im internationalen Vergleich zu bestehen, muss die eigene Leistung bzw. Effizienz der Hochschulen in Forschung und Lehre permanent kontrolliert bzw. evaluiert werden. „Was allein zählt, ist ökonomische Effizienz durch Leistungskontrolle des Qualitätsmanagements“ [24] Jede Veranstaltung wird durch standardisierte Fragebögen evaluiert. Vermittels dieser können Studierende ihre „Kritik“ und „Verbesserungsvorschläge“ einfach und formal an die Verwaltung und das Lehrpersonal weitergeben, die dementsprechend die Lehre optimieren können. Im Zuge dessen scheint es „Kritik“ nur noch „inflationär und verlottert auf der Basis sogenannter ‚Konstruktivität‘“ – als Feedback oder Evaluation zu geben. „Reduziert auf das Epiphänomenale, soll sie nicht mehr grundsätzlich werden, sondern eine zubringende Funktion für die Konsensproduktion erfüllen.“ [25]

Diese Eindimensionalisierungsprozesse wurden und werden durch die Digitalisierung der Lehre und Verwaltung tendenziell verschärft. Denn durch die Digitalisierung wird zum einen das Vervielfältigung von standardisiertem Funktionswissen erheblich erleichtert. Dies ermöglicht der Hochschulverwaltung (perspektivisch, aber auch schon heute in Form von Fernstudiengängen) eine weitere Kostenreduktion, da weniger Hörsäle für Lehrveranstaltungen gemietet werden müssen und (standardisierte, auf die vereinheitlichten Module angepasste) Seminare womöglich sogar extern „eingekauft“ werden können. Dies ginge vor allem zu Lasten der prekär beschäftigten Dozierenden und Studierenden, die darauf angewiesen sind, sich ein eigenes „Home-Office“ einzurichten, in dem sie individualisiert arbeiten müssen. Zum anderen ermöglicht Digitalisierung eine Optimierung der Evaluierungs- und Kontrollmechanismen v.a. durch die erweiterten Möglichkeiten der Überwachung, durch welche die messbare Vergleichbarkeit von Lernarbeit abgesichert wird.[26] Vor diesem Hintergrund erscheint ein Ausweg aus der Eindimensionalität im Denken im akademischen Betrieb ferner denn je. „Tut indessen der Geist nur dann das gesellschaftlich Rechte, solange er nicht in der differenzlosen Identität mit der Gesellschaft zergeht, so ist der Anachronismus an der Zeit: an der Bildung festzuhalten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog.“ [27]

So komme ich zu dem Schluss, dass der derzeitige Schub an Digitalisierung vor dem Hintergrund der Ökonomisierung der Hochschulen in Folge ihrer Reformierung eindimensionales Denken im akademischen Betrieb zusätzlich befördert. Denn jene erleichtert die Beschränkung von „Bildung“ auf ein Abrufen von positivem Fachwissen. Das isoliert Faktische, Operationalisierbare, Messbare wird zum alleinigen Gegenstand der Halbbildung. Somit wird dem Nichtidentischen seine Existenz abgesprochen, die Differenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit eingeebnet. Dies bedeutet keineswegs, dass Digitalisierung (auch im akademischen Bereich) grundsätzlich abzulehnen sei. Wie Marcuse jedoch betont, „läßt sich der traditionelle Begriff der ‚Neutralität‘ der Technik nicht mehr aufrechterhalten. Technik als solche kann nicht von dem Gebrauch abgelöst werden, der von ihr gemacht wird.“ [28]


Über den Autor: Johann Prüfer ist BA-Student der Fächer Philosophie und Politikwissenschaft an der Universität Kassel. Dieser Aufsatz entstand im Zuge der Veranstaltung Herbert Marcuse: Aufhebung der Philosophie in eine kritische Gesellschaftstheorie im Sommersemester 2020.


[1] Adorno, Theodor W. (1959): Theorie der Halbbildung. In: Busch, A. (Hrsg.), Soziologie und moderne Gesellschaft: Verhandlungen des 14. Deutschen Soziologentages vom 20. bis 24. Mai 1959 in Berlin (S. 169-191), Stuttgart, hier S. 169.
[2] Im Folgenden werde ich den Aspekt der sich verstärkenden Bldungsungerechtigkeit durch die Corona-Pandemie nicht beleuchten. Es sollte jedoch festgehalten werden, dass deren ökonomische Konsequenzen sowie die Umstellung auf eine primär digital vermittelte (Hoch)Schulbildung vor allem die Situation schon vorher marginalisierter Schüler*innen und Student*innen in besonderer Weise trifft und so die soziale Ungleichheit tendenziell verschärft.
[3] Demirović, Alex (2015): Wissenschaft oder Dummheit. Über die Zerstörung der Rationalität in den Bildungsinstitutionen, Hamburg, S. 218.
[4] Denn die „Vernunft ist in ihrem tiefstem Wesen Wider-Spruch, Opposition, Negation, solange die Vernunft noch nicht wirklich ist.“ (Marcuse, Herbert (1990): Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie. 8. Aufl., Neuwied am Rhein, hier S. 370.) Kritische Theorie sei folglich „mehr als ein bloßes Registrieren und Systematisieren von Tatsachen“, vielmehr sollen „der schlechten Faktizität ihre besseren Möglichkeiten“ entgegengesetzt werden im Interesse der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts. (Vgl. Marcuse, Herbert (1967): Philosophie und kritische Theorie. In: Ders. Kultur und Gesellschaft I. Frankfurt am Main, hier S. 111.)
[5] Marcuse, Herbert (1998): Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, 3. Aufl., München, hier S. 29.
[6] Wissenschaftlicher und technischer Fortschritt hat sich nach Marcuse zu einem „Herrschaftsinstrument“ entwickelt (Vgl. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 35f.). „Ausgeweitet zu einem ganzen System von Herrschaft und Gleichschaltung, bringt der technische Fortschritt Lebensformen […] hervor, welche die Kräfte, die das System bekämpfen, zu besänftigen und allen Protest […] zu besiegen oder zu widerlegen scheinen.“ (Ebd. S. 14)
[7] Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 31.
[8] Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 33. Dieser Positivismus bilde „damit, daß er die transzendierenden Elemente der Vernunft leugnet, das akademische Gegenstück […] zum gesellschaftlich erforderten Verhalten.“ (Ebd)
[9] Adorno, Theorie der Halbbildung, S. 170f.
[10] Adorno, Theorie der Halbbildung, S. 191.
[11] Adorno, Theorie der Halbbildung, S. 170.
[12] Adorno, Theorie der Halbbildung, S. 171. Adorno versteht unter Bildung „Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung“ (Ebd. S. 170). Kulturell könne aber nur sein, „was vermöge der Integrität der eigenen geistigen Gestalt sich realisiert und nur vermittelt, durch diese Integrität hindurch, in die Gesellschaft zurückwirkt, nicht durch unmittelbare Anpassung an ihre Gebote.“ (Ebd., S. 191) Durch die Anpassung wird jedoch Bildung als ‚Zu-Eigen-Machen‘ von Kultur verunmöglicht. ‚Bildung‘, die sich auf das rein äußerliche Erfassen von Kultur ohne Verbindung zur gesellschaftlichen Praxis (vermittelt durch verwertbare Wissensgüter) beschränkt, versteht Adorno als kulturindustrielle „Halbbildung“.
[13] Für Marcuse hatte der technische Fortschritt immer ein integratives Moment. Der soziale Zusammenhalt wurde gestärkt durch die technisch vermittelte „Angleichung“ von gesellschaftlichen Gegensätzen. Durch den neoliberalen Appell an das ‚eigenverantwortliche‘ Individuum, das sich frei nach seinen Bedürfnissen entfalten könne, scheint die These der „Integration der Gegensätze“ obsolet geworden zu sein. „Mehr denn je wird die Verwirklichung von Vielheit konstatiert und damit genau gegenteilig zu der hier verhandelten These von Eindimensionalität argumentiert.“ (Freytag, Tatjana (2008): Der unternommene Mensch. Eindimensionalisierungsprozesse in der gegenwärtigen Gesellschaft, Göttingen, hier S. 63.) Dem Postulat von Autonomie und vielfältigen Möglichkeiten hängt jedoch von Beginn etwas Ideologisches an: „Unter der Herrschaft eines repressiven Ganzen läßt Freiheit sich in ein mächtiges Herrschaftsinstrument verwandeln. Der Spielraum, in dem das Individuum seine Auswahl treffen kann, ist für die Bestimmung
des Grades menschlicher Freiheit nicht entscheidend, sondern was gewählt werden kann und was vom Individuum gewählt wird.“ ( Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 27) Gerade die „Absorption von Vielfalt“ präsentiere sich im „ideologischen Gewand von vielfältigen Wahlmöglichkeiten“ (Freytag, Der unternommene Mensch, S. 189). Tatsächlich habe es in den letzten Jahrzehnten einen „zusätzlichen Schub an Ausformulierungen globaler Standards und Normierungen gegeben“, durch den die Beschränkung auf das isoliert Faktische manifestiert wird. (Ebd, S. 65).
[14] „Das Wissen schneidet sich als wissenschaftliches von der gesellschaftlichen Praxis ab, es wird zu einem sachlichen, verfügenden […] und objektiven Wissen, das von sich behauptet, es sei wertneutral.“ (Demirović, Wissenschaft oder Dummheit, S. 216).
[15] Adorno, Theorie der Halbbildung, S. 183.
[16] Adorno, Theorie der Halbbildung, S. 186.
[17] Demirović, Wissenschaft oder Dummheit, S. 218.
[18] Vgl. Freytag, Der unternommene Mensch, S. 174.
[19] Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max (2008): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 17. Aufl., Frankfurt am Main, hier S. 207.
[20] Demirović, Wissenschaft oder Dummheit, S. 71.
[21] Freytag, Der unternommene Mensch, S. 145f.
[22] „Standards und Normierungen werden als identifizierbare Quanta gehandelt, die unter allen Umständen das Kriterium der Vergleichbarkeit garantieren […]. Vergleichbarkeit wird zu einer regelrechten Ordnungsmacht, die für die Restrukturierung von zentralen gesellschaftlichen Bereichen geltend gemacht wird.“ (Freytag, Der unternommene Mensch, S. 65) Um die Vergleichbarkeit der Lehre zu garantieren, musste Studienqualität folglich messbar gemacht werden. Zu diesem Zweck wurden „Leistungscredits“ und modularisierte Lerneinheiten als Maßstäbe eingeführt, um den Wert von „Bildung“ quantitativ erfassen zu können. Dies führte zu einer massiven Angleichung des akademischen Betriebs. „Die standardisierten Mess- und Anrechnungsmethoden vereinseitigen das Angebot, machen die Hochschule austauschbarer auf Kosten der spezifischen inhaltlichen Unterschiede.“ (Ebd., S. 178). An die Stelle von (zumindest in Teilen) kritischer inhaltlicher Auseinandersetzung an Hochschulen rückte der standardisierte, berufsqualifizierende „Kompetenzerwerb“,
das Lernen des Lernens. „Bildung, in all ihrer Widersprüchlichkeit, löst sich auf in eine widerspruchsfreie, eindimensionale Übung und Abfrage von Basiskompetenzen durch Leistungsstandards“ (Ebd., S. 174); „neues Bildungsideal scheint lediglich die Anpassungsfähigkeit des potenziellen Arbeitnehmers zu sein.“ (Ebd., S. 173)
[23] Adorno, Theodor W. (1977): Kulturkritik und Gesellschaft. Teil II: Eingriffe. Stichworte. Frankfurt am Main, S. 777.
[24] Freytag, Der unternommene Mensch, S. 172.
[25] Freytag, Der unternommene Mensch, S. 192.
[26] So bot das Unternehmen „Zoom“ zwischenzeitlich das „attendee attention tracker future“ an, anhand dessen überprüft werden konnte, ob man bei einer Videokonferenz aufpasst. Bei der an Universitäten genutzten Lernplattform „Moodle“ ist es für Dozierende durch den „Aktivitätenbericht“ möglich einzusehen, wie oft die Kursteilnehmenden
das hochgeladene Arbeitsmaterial angeklickt haben. In einigen Universitäten sollen Studierende des Weiteren bei Online-Prüfungen eine Videoaufnahme von sich während der Bearbeitungszeit machen.
[27] Adorno, Theorie der Halbbildung, S. 191.
[28] Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 18.

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