Dirigent oder Machthaber?

Dirigent oder Machthaber?

Ein roter Vorhang zieht sich langsam und lautlos auf. Es folgt ein kurzer Moment der Dunkelheit und der Stille. Alle sitzen gespannt auf ihren Plätzen. Niemand spricht. Der erste Ton fällt. Ab dem Moment begeben wir uns in eine Situation, in der wir beinahe jegliche Kontrolle über uns abgeben. Die Musik allein übernimmt die Macht. Sie lenkt was wir hören und auch wie wir uns fühlen. Wir lassen uns fallen und tauchen ein in eine uns vorgegebene Welt. Jede Sekunde ist genau durchdacht und inszeniert. Die Komponisten*innen selbst sprechen nie direkt mit uns. Sie kommunizieren allein über die niedergeschriebene Musik. Gelingt es ihnen, uns derart einzunehmen, mitzureißen und zu kontrollieren, so wächst ihre Macht über uns aus dem Saal hinaus und verfolgt uns bis in unsere Träume.

“Ein Text ist ein schriftlicher fixierter Diskurs. Was durch die Schrift fixiert wird, ist also eine Rede, die man zwar hätte sprechen können, die man aber genau deshalb schreibt, weil man sie nicht spricht.”[1]

Was also wollte uns Elias Canetti mit dem Kapitel „Der Dirigent” aus seinem Werk „Masse und Macht” von 1960 sagen? Canetti beschreibt die Situation einer musikalischen Aufführung, in die man als Leser*in direkt hineingeworfen wird. Der Dirigent[2] und seine Macht spielen für ihn dabei die zentrale Rolle, da der Dirigent die Aufgabe hat, die Musik an die Zuschauer*innen zu vermitteln. Solange er nicht anwesend ist, herrscht ein wildes Durcheinander, doch sobald er hereinkommt, sich aufstellt, sich räuspert und den Stab hebt, verstummt alles.[3] Die Aufmerksamkeit und die Macht liegen jetzt nur bei ihm. Er befindet sich im Zentrum und alle Musiker*innen und Zuschauer*innen warten auf seinen Auftritt und seine Anweisungen. Ein besonderes Augenmerk scheint Canetti auf die Charaktereigenschaften des Dirigenten und ihn beschreibende Worte zu legen, da diese in kursiver Schrift hervorgehoben sind: „steht“[4], „alleine“[5], „erhöht“[6], „allwissend“[7] und „Allgegenwärtigkeit“[8]. Diese Begriffe demonstrieren Macht und Ansehen des Dirigenten gegenüber den anderen Teilhaber*innen. Der Dirigent hat die Aufgabe, die Musik zu vermitteln und ist der Einzige mit gesamtem Überblick. Die Musiker*innen selbst spielen in dem Akt nur eine kleine Rolle. Sie sind die ausführende Gewalt und sind dem Dirigenten gegenüber folgsam und unterstellt. Jede*r von Ihnen soll seine*ihre Aufgabe übernehmen und ist sich auch nur dieser bewusst. Sie scheinen blind gegenüber dem Gesamten zu sein. Nur der Dirigent hat die Macht, aus ihnen eine Einheit zu schaffen und kann über mögliche Fehler richten.[9] Er ist Legislative und Judikative zugleich. Mit dem Stab oder der Hand erfolgen die Anweisungen, denen die Musiker*innen folgen. Die Zuschauer*innen hingegen sind die Einzigen, die, ohne es zu wissen, Einfluss auf den Dirigenten zu haben scheinen. Während des gesamten Stückes sitzen die vielen verschiedenen Zuschauer*innen stillschweigend und aufmerksam, vielleicht gar wie erstarrt, hinter dem Dirigenten. Sie lauschen aufmerksam der Musik und zeigen durch Applaus ihre Anerkennung für die Leistungen des Dirigenten. Dieser Applaus ist das einzige Ziel, das der Dirigent verfolgt und für das er lebt. Nur dies spiegelt das Maß seines Erfolgs wider.[10] Obwohl er den Zuschauern*innen nie sein Gesicht zeigt, ist er ihnen, beziehungsweise ihrem Beifall, regelrecht ausgeliefert. Diese Korrelation der Macht scheint den Zuschauer*innen jedoch nicht bewusst zu sein, da sie sich, wie auch die Musiker*innen, vollständig unterordnen. Der Dirigent hat die Macht und lässt sie wie Marionetten tanzen.

“Wenn die Lektüre möglich ist, so wohl deshalb, weil der Text nicht in sich selbst abgeschlossen, sondern offen auf etwas anderes hin ist. Lesen heißt, auf jeden Fall einen neuen Diskurs mit dem Diskurs des Textes [zu] verbinden”[11]

Besonders hervor sticht in „Der Dirigent” der Begriff der Macht. Formulierungen wie die „Natur der Macht” und „Ausdruck für Macht” unterstreichen diese Annahme. Den Dirigenten beschreibt Canetti als eine Art Diktator und Machthaber, dessen Stärke er über den gesamten Text hinweg nicht unwesentlich betont. Er „steht […] allein […] erhöht”[12], wodurch eine Erhabenheit und eine gewisse Herablassung ausgedrückt werden, wohingegen die Versammlung still dasitzt, „auf seinen Befehl”[13] gehorcht und das macht, was er will.

Auffällig ist die mehrfache Erwähnung der Hand des Dirigenten, der eine besondere Bedeutung zukommt. Der Ausdruck dieser gehobenen Hand ist ein Symbol für eine starke Dominanz. Die Hand gegen jemanden erheben – der Ausdruck erinnert an eine ‚Konfliktlösung‘ in Form von Gewalt, in der es um Unterdrückung und Gehorsam geht. Auch wirft er Parallelen zu anderen bedrohlichen Situationen auf, in denen die Hand gegen jemanden erhoben wird und könnte beispielsweise mit der Vorstellung eines Menschen, der seine Hand gegenüber seiner Familie erhebt, assoziiert werden. Mitunter wird eine starke Form von Gewaltbereitschaft zum Ausdruck der gehobenen Hand, so als würde sie zu einem kräftigen Schlag ausholen. Sie kann ebenso als eine Anspielung auf eine Gott-gleiche Stellung verstanden werden, der durch seine Hand Dinge geschehen lassen kann, genau wie der Dirigent mit seiner Hand die Musik und die Stimmen kontrolliert und sie mithin geschehen lassen kann. Weitergehend sind viele Analogien sichtbar, die auf das Militär und einen Krieg hindeuten. Der von Canetti genannte „Diener an der Musik”[14] ähnelt dem vom Militär verwendeten Ausdruck Dienst an der Waffe. Vor allem an dem Begriff „Führer”[15]ist heutzutage, ohne eine Assoziation an den zweiten Weltkrieg nicht mehr zu denken. Der Dirigent bekommt eine Macht über Ton und Stille zugeschrieben, die mitunter an die Macht über Leben und Tod eines militärisch-diktatorischen Führers erinnert. Dabei übt er eine kaum zu erfassende Kontrolle über seine „Armee von Berufsspielern”[16] aus, die in einer bedingungslosen Folgsamkeit mündet. Einerseits nehmen die Zuschauer*innen die Stellung eines unmündigen unterwürfigen Volkes ein, das seinem Führer blinden Beifall schenkt. Andererseits scheinen sie unter dem Zwang des Machthabers zu stehen, dem sie sich nicht entziehen können. Ebenso wie die Musiker*innen auf den Dirigenten angewiesen sind, der sie leitet und ihnen Anordnungen gibt, sind Soldat*innen auf ihre Befehlshaber*innen angewiesen, die sie als Einheit führen und Befehle erteilen. Auch in einem Krieg geht es letztlich nur um „Sieg und Niederlage”[17].

„In einem ersten Sinn bewahrt die Interpretation den Charakter der Aneignung […]. Unter Aneignung verstehe ich, daß die Interpretation eines Textes sich in der Selbstdeutung eines Subjekts vollendet, das sich von da an besser versteht, anders versteht oder überhaupt erst zu verstehen beginnt.”[18]

Was sagt es über uns aus, dass wir beim Lesen des Textes „Der Dirigent”[19] intuitiv an militärische Begebenheiten und Machtstrukturen in totalitären Systemen denken, obwohl wir uns selbst nie in einer solchen Situation wiederfinden mussten? Unterbewusst scheint die intensive Auseinandersetzung mit vergangenen Kriegen in der Schule nachdrücklich haften geblieben zu sein. Doch ob es eine positive oder negative Deutung ist, wird dadurch noch nicht klar. Scheinen wir uns unterbewusst nach einer Erfahrung dieser Art zu sehnen, um sie selbst besser verstehen zu können, oder ist die Vorstellung eines Krieges derart abschreckend und angsteinflößend, dass wir jede nur ähnliche Situation sofort mit dem Krieg vergleichen, um ihr entgegenzuwirken? Es mag uns in der heutigen Gesellschaft an Wertschätzung für das große Glück des kleinen alltäglichen Lebens fehlen, da solche extremen Ausnahmesituationen wie Kriege so weit zurückliegen, dass uns unter Anderem nur noch Texte an sie erinnern. Umso wichtiger scheint es, eben jene genau zu betrachten, um sich immer wieder ins Gedächtnis rufen zu können, was passieren kann, wenn Macht außer Kontrolle gerät. Bricht man den Machtbegriff auf die Ebene des Alltags herunter, so sehen wir uns alle beinahe täglich damit konfrontiert. Bereits als Kinder wachsen wir in verschiedensten Machtverhältnissen auf, in denen wir lernen, verstehen und ebenso gehorchen und uns unterordnen sollen. Dies setzt sich im Erwachsenenalter fort und äußert sich in uns selbst, wie auch beruflich und im sozialen Leben. Solche Begebenheiten, aber auch andere Ereignisse mit prägenden Machtstrukturen, wie die Weltkriege, können in Lektüre aufgegriffen, verarbeitet und durch die Zeit transportiert werden, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Auch Canetti, der 1905 gebrochen wurde, gehört zu der durch die Kriege geprägten Generation, sodass sich seine gesammelten Erfragungen vermutlich in seinen Lektüren widerspiegeln.

“Ich sage manchmal gern, daß die Lektüre eines Buches bedeutet, seinen Autor als bereits verstorben und das Buch als posthum zu betrachten. […] Der Autor kann nicht mehr antworten, nur sein Werk kann noch gelesen werden. […] Jeder Diskurs ist so in gewissem Ausmaß mit der Welt verbunden. Denn worüber spräche man, wenn man nicht über die Welt spräche?”[20]


Über die Autorinnen: Wir, Mara Möller (Studentin der Rechtswissenschaften) und Ann-Sophie Meyer (Studentin der Betriebswirtschaftslehre), haben uns im Rahmen des Moduls Wissenschaftliche Methoden an der Leuphana Universität Lüneburg mit dem Thema Hermeneutik und Dekonstruktion auseinandergesetzt. Hierbei haben wir eine Herangehensweise gewählt, anhand derer wir unser Selbst ein Stück weit beleuchtet haben, um herauszustellen, wie wichtig die eigene Auseinandersetzung mit Machtstellungen und Machtmissbrauch in der Gesellschaft ist.


Die Lesung des “Dirigenten” ist auf unserem Blog unter folgendem Link zu finden: Elias Canetti: “Der Dirigent”, gelesen von Frederik Metje.


[1] Ricoeur, Paul (1970): „Was ist ein Text?“, in Welsen, Peter (Hrsg.): Vom Text zur Person, Hamburg, S.79-108, hier S. 80.
[2] Wir werden im Folgenden den Dirigenten als Begriff nicht gendern, da Canetti sich in seinem Text explizit dem männlichen Dirigenten widmet.
[3] Vgl. Canetti, Masse und Macht, S. 469.
[4] Canetti, Elias (1980), Masse und Macht, Frankfurt am Main, S. 468.
[5] Canetti, Masse und Macht, S. 468.
[6] Canetti, Masse und Macht, S. 468.
[7] Canetti, Masse und Macht, S. 470.
[8] Canetti, Masse und Macht, S. 470.
[9] Vgl. Canetti, Masse und Macht, S. 470.
[10] Vgl. Canetti, Masse und Macht, S. 469.
[11] Ricoeur, „Was ist ein Text?“, S. 98.
[12] Canetti, Masse und Macht, S. 468.
[13] Canetti, Masse und Macht, S. 468.
[14] Canetti, Masse und Macht, S. 468.
[15] Canetti, Masse und Macht, S. 469.
[16] Canetti, Masse und Macht, S. 470.
[17] Canetti, Masse und Macht, S. 469.
[18] Ricoeur, „Was ist ein Text?“, S. 99. 
[19] Canetti, Masse und Macht, S. 468-470.
[20] Ricoeur, „Was ist ein Text?“, S. 80-83.

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