Warum ist es wichtig, Arbeit ‚neu‘ zu denken?

Warum ist es wichtig, Arbeit ‚neu‘ zu denken?

„Die Arbeit im philosophischen Sinn erfasst alle Prozesse der bewussten schöpferischen Auseinandersetzung des Menschen. Sinngeber dieser Prozesse sind die selbstbestimmt und eigenverantwortlich handelnden Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Anschauungen im Rahmen der aktuellen Naturgegebenheiten und gesellschaftlichen Arbeitsbedingungen.”

Dieser Definition der Online- Enzyklopädie Wikipedia kann ich mich voll anschließen. Sie umfasst all die Merkmale, die wir m.E. heute bzw. in Zukunft mit Arbeit verbinden sollten. Geschichtlich hat der Begriff Arbeit eine wechselhafte Gestalt. Der folgende Abriss soll dies kurzweilig verdeutlichen:

  • In der Antike ist der Begriff negativ belegt, Arbeit ist etwas für Frauen und Sklaven. Aristoteles bringt ihn gar in Gegensatz zur Freiheit; [i] Xenophon spricht von banausischer Tätigkeit: [ii] Wenn Arbeit überhaupt ein Wert beigemessen wird, dann der Landbearbeitung. Das Christentum weist ihr eine von Gott gegebene Aufgabe zu, die notwendig und klaglos für das spätere Seelenheil durchzuführen ist, auch oder gerade weil sie als Mühsal wahrgenommen wird. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen (Paulus); Müßiggang ist Sünde (Luther).            
  • Mit Einsetzen der arbeitsteiligen Gesellschaft wird zwischen körperlicher und geistiger Arbeit differenziert. Letztere wird höher bewertet, es bleibt aber eine feste Zuordnung gemäß Standeszugehörigkeit zu körperlicher oder geistiger Arbeit.
  • In der bürgerlichen Gesellschaft definiert sich der (männliche) Mensch durch seine Arbeit und das dadurch erworbene Eigentum. Die Art von Arbeit und der Besitz definieren den Wert des Menschen.
  • Für Marx ist die Arbeit im Sinne der existenzsichernden Produktion der Wesenskern jeder menschlichen Entwicklung, die jedoch durch die Kapitalmächtigen entfremdet wird, da der Arbeitende zum Ergebnis seiner Arbeit keine Beziehung aufbauen bzw. keine aus ihr resultierende Ansprüche stellen kann.
  • Auch die folgenden sozialistischen wie kapitalistischen Systeme geben der Arbeit einen extremen Stellenwert, was sich schon in Ausdrücken wie „Held der Arbeit“ oder vergebenen Ehrenbezeichnungen für gute Leistung bis hin zu Incentives (Herausstellung der besten Leistungsträger in Wettbewerbssystemen = psychischen Druck aufbauen) prägt.
  • Der Lohnarbeit wird in der heutigen Gesellschaft, gesteuert von Politik und Kapital, ein Wert an sich zugewiesen. Als knappe Ware hat sie für das Selbstbewusstsein einen hohen Stellenwert nach dem Motto „Wenn ich arbeite, dann bin ich“. Wer keine Lohnarbeit hat, fühlt sich von der Gesellschaft ausgestoßen, die sozialen Sicherungssyteme (Hartz 4) haben einen eher entwürdigenden Charakter.

Alles in allem kann festgestellt werden, dass Arbeit, gleich wie notwendig und mühsam sie  war, gesteuert wird von den jeweiligen feudalen Klassen, die es so einrichten, dass die Arbeitenden für sie tätig sind, dass sie diese manipulieren und  ihre Arbeitsergebnisse verzehren, gleich ob es freie Bürger (Antike), Kirchenlenker und Adlige (Mittelalter) oder Kapitalisten (Beginn der Industrialisierung bis heute) sind. Und es gelang und gelingt immer noch unter Nutzung körperlichen oder seelischen Drucks den Arbeitenden einzureden, dass sie in aufopfernder Haltung am ehesten ihr persönliches Glück erreichen können. Nur die Methoden sind subtiler geworden, haben sich dahin gewandelt, dass der Arbeitende seine eigene Manipulation nicht mehr wahrnimmt und mit Einkommen, entweder an der unteren Anstandsgrenze oder mit bestechendem Charakter,  sowie mit konsum- und kulturellen Scheinangeboten ruhig gehalten wird.                                 

Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich in demokratischen wie diktatorischen Systemen stets weiter, der Mittelstand blutet aus, prekäre Arbeitsverhältnisse, Zeitarbeit und befristete Verträge nehmen überhand. Und bei alledem sucht der Einzelne dringend nach einem Job, um sich aus der schmähenden sozialen Abhängigkeit zu befreien, nicht wissen wollend, dass er sich in eine neue Abhängigkeit von einem die Situation ausnutzenden Arbeitgeber begibt oder begeben muss. Das ungeliebte Hartz-4-Abhängigkeitsverhältnis wird dann aufgegeben, eingetauscht gegen ein anderes, nur vermeintlich weniger schmachvolles Abhängigkeitsverhältnis. Auch die viel propagierte (Schein-) Selbstständigkeit (z.B. Ich-AG) dient allenthalben der Selbst- statt Fremdausnutzung. Ausgenommen sind hier nur Entrepreneure, die auf Grundlage einer Idee das notwendige Kapital besorgen und ein neues Unternehmen gründen (start up).

Dabei ist die Arbeit durch weitgehende Spezialisierung von ihrem Ergebnis völlig entfremdet, bietet von sich aus keinen mittragbaren Sinn, folgt dem „rechnerischen Kalkül“ [iii] und ist jederzeit von anderen übernehmbar. Anders bewertet könnten hier qualifiziertere Stellungen oder solche mit Führungsverantwortung sein, doch auch die sind i.d.R. in organisatorische Begrenzungen festgelegt und ausschließlich monetär ohne sinnstiftenden Wertbezug ausgerichtet. Es gibt aber noch eine ganz grundsätzliche Überlegung: Hat uns die moderne Arbeitswelt nicht in einen funktionalen Arbeitsprozess genötigt, in dem Arbeit ausschließlich zur Geldbeschaffung dient und je mehr einer arbeitet, je spezialisierter sein Arbeitsfeld ist, umso mehr Geld hat er verfügbar, aber nicht mehr die Zeit oder Muse, damit etwas sinnstiftendes anzufangen? Vielmehr setzt die kapitalistische Gesellschaft alles daran, ihn mit allen werblichen und psychologischen Tricks dazu zu verführen, das Geld für Dinge (Mode, Statussymbole, etc.)  auszugeben, die er weder braucht noch dass sie ihn glücklicher machen würden. Ersatzbefriedigungen, die der kapitalistischen Notwendigkeit eines quantitativen Wachstums folgen, um die Reichen reicher zu machen. Eine Lebenszeit, die den persönlichen Interessen oder sozialen Intentionen entspricht, entfällt. Lebens- statt Arbeitszeit ist für das kapitalistische System kontraproduktiv. Dass die Arbeit die Lebensqualität erhöhen würde wenn sie mit selbstbestimmter Tätigkeit verbunden ist, widerspricht dem Wachstumsgebot. So ist dieser falsche Arbeitssinn ein Grundpfeiler des kapitalistischen Systems des immer Mehr. Eine  Neubestimmung der Arbeit im Sinne einer Stärkung der Lebenszeit würde die Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber entkräften, da ersterer nicht mehr aus Lebensnotwendigkeit handeln müsste.

Heute jedoch stehen wir vor einem Paradigmenwechsel. Der Stellenwert der Arbeit als Wertbestimmung des Menschen steht zwar nach jahrhundertelanger Prägung immer noch im Focus, was sich aber ändert, ist, dass die Arbeit, zumindest die der Massen, uns ausgehen wird und damit das Problem Allgemeingültigkeit erreicht. Schon Hannah Arendt schrieb Ende der 1950er Jahre von einer „Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist.“ [iv] Zu ihrer Zeit war es nur eine zunehmende Automation, jetzt aber stehen wir vor dem Phänomen einer künstlichen Intelligenz (KI), die nicht nur eine Robotik in den Herstellungsprozessen (Industrie 4.0) meint, sondern die Dienstleistungsprozesse rationalisiert und sich zunehmend dadurch auszeichnet, sich selbst aus sich selbst weiterzuentwickeln und in alle menschlichen Bereiche einzudringen. Volkswirtschaftlich heißt das, mehr wirtschaftliche Leistung bei geringeren Kosten zu ermöglichen. Der Gesellschaft geht es wirtschaftlich gut ohne dass Menschen in den Wirtschaftsprozessen in bisheriger Zahl eingesetzt werden, ja vielfältig würden sie die Arbeitseffizienz nur behindern.

Nun, die technische Innovation hat immer die Gesellschaftsstruktur bestimmt. Von der Hacke über den Pflug, der Erfindung des Rades bis zur Dampfmaschine, der fossilen Energie zur Elektrizität und des Computers. Immer hat es Befürchtungen auch hinsichtlich des Arbeitsplatzverlustes gegeben, der jedoch durch neue Arbeitsplätze in neuen Technologien und weltweitem Wachstum weitgehend ausblieb. Doch diesmal ist es eine andere Dimension. Die KI greift nicht in Teilbereiche menschlichen Tuns ein, sondern übernimmt menschliche Tätigkeit in ihrem Kern, dem Denken. Dass hierdurch und durch die universelle Vernetzung  große Gefahren in Bezug auf  menschliche Freiheit, menschliche Fähigkeiten und jede Form der Individualisierung  einhergehen und dass wir uns deshalb auf diese Zukunft rechtzeitig durch gesellschaftspolitische Maßnahmen vorbereiten müssten, liegt auf der Hand. Und dass die Finanzierung öffentlicher Aufgaben nicht mehr aus der Besteuerung von Arbeit gesichert werden kann, ist auch leicht einzusehen. Wenn die menschliche Lohnarbeit für den Stoffwechsel mit der Natur nicht mehr in dem bisherigen Maße gebraucht wird, ist es notwendig, einen neuen Gesellschaftsvertrag aufzustellen, der diesem Umstand Rechnung trägt.

Richard David Precht hat sich in seinem Buch „Jäger, Hirten, Kritiker -Eine Utopie für die digitale Gesellschaft“ [v] umfangreich mit den Anforderungen und Möglichkeiten der digitalen Gesellschaft auseinandergesetzt.  Er blickt auf eine erkennbar mögliche Entwicklung bis zum Jahr 2040, zeigt die Gefahren auf, wenn wir aus dem Jetzt und Heute unsensibel in diese Zukunft gehen, und zeigt Gestaltungsmöglichkeiten für einen kontrollierten Umgang mit dieser Herausforderung. Zum Thema einer anderen Arbeitskultur weist er, wie viele andere, auf die Einführung eines „Bedingungslosen Grundeinkommens“ hin, das eine gesellschaftliche Katastrophe verhindern  und ein menschengerechtes Dasein ermöglichen kann. Zur, eine nach allen Rechenexempeln möglichen Finanzierung schlägt er eine Finanztransaktionssteuer vor, die sich, zumindest in den Industrienationen, vor allem aus dem Casino-Kapitalismus (Börsengeschäfte ohne Realhintergrund mit Wettcharakter, Dervivate) trägt. Der Gedanke ist jedoch noch sehr umstritten, nicht so sehr, weil er technische oder ökonomische Probleme mit sich brächte, mehr, weil wir im Denken noch in der alten Arbeitsethik (Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen) hängengeblieben sind. Auch politisch ist die Idee noch kaum denkbar. Die konservativen   oder neoliberalen Kräfte hängen in dem Dogma „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ fest, die Sozialisten und Linken wie die Gewerkschaften haben Angst davor, dass ihnen ihr Hauptargumentationsfeld (Lohnarbeit als Lebensbestimmung) entzogen würde. Aber was nützt es, die technische Entwicklung ist nicht aufhaltbar und wird die Gesellschaften zwingen, Antworten zu finden. Entweder jetzt planbar in utopischer Sicht oder wenn es soweit ist mit Notmaßnahmen.

Eine weitere gute Darstellung zu diesem Thema bringen die Ergebnisse der internationalen Delphi-Studie des Millennium Project. [vi] Es basiert auf der Befragung von mehreren hundert Fachleuten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in verschiedenen Ländern und etwa 30 Workshops in 20 Ländern. Die drei Szenarien zeigen deutlich auf, welche Wege gegangen werden können: Man kann erstens alles beim Alten belassen, was ein Apokalypse-Szenario mit sich bringt, Zweitens, einen mittelguten Entwurf wagen, der durch hohe Arbeitslosigkeit und Schattenwirtschaft  geprägt sein wird und in dem man sich „so durchwurschteln“ kann oder ein positives Szenario entwerfen, das eine freie Selbstaktualisierungsökonomie mit radikaler Reform des Bildungswesens (Kompetenz statt Wissen) vorsieht, sich durch hohe Selbstständigkeit in der Arbeit auszeichnet und auf einem Bedingungslosen Grundeinkommen basiert.

Die neuen technologischen Möglichkeiten in der digitalen Welt lassen uns erstmals eine neue Einstellung zur Arbeit finden, weil wir von dem Zwang, der Natur etwas zu entreißen, was uns am Leben erhalten soll, befreit sind. Das können Maschinen übernehmen. Die Menschen können sich, wie oben genannt, selbstbestimmt und eigenverantwortlich für soziale und kulturelle Arbeit einsetzen oder einfach das tun, was ihnen wichtig erscheint oder Spaß macht, sei es in Lohnarbeit oder Selbstständigkeit. Letztere wird erheblich zunehmen, da es die Lebensbedingungen ermöglichen.   Doch Bedingung ist, dass wir uns umgehend auf diese neue Welt einstellen und die gesellschaftlichen Voraussetzungen schaffen, das heißt, einen Paradigmenwechsel unseres Denkens vollziehen.


[i] Aristoteles, Politik, Meiner 1995, 1338b  

[ii] Aßländer/Wagner, Philosophie der Arbeit, Xenophon, Suhrkamp 2017, 43-60

[iii] Gortz, André, Kritik der ökonomischen Vernunft, Rotpunktverlag 2010, 179ff

[iv] Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Piper 2007, 13

[v] Precht, Richard David, Jäger, Hirten, Kritiker – Eine Utopie für die digitale Gesellschaft, Goldmann 2020

[vi] Bertelsmann Stiftung, Arbeit 2050: Drei Szenarien, 2019

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