Kritische Perspektiven auf eine Universität 4.0

Kritische Perspektiven auf eine Universität 4.0

Philosophische Reflexion zur Geschichte, Gegenwart und Zukunftsperspektive einer Institution

Bericht zur Studierenden-Online-Konferenz, 4. Juli 2020:
Als Abschluss des digitalen Sommersemesters münden die drei Seminare „Unbedingte Universität(en). Philosophische Reflexion zur Geschichte, Gegenwart und Zukunftsperspektive einer Institution“ (Verena Häseler), „Kreativität, Intuition und Zufall: Theorien zur Innovationsgeschichte wissenschaftlicher Forschung“ (Simon Rettenmaier) und „Herbert Marcuse: Aufhebung der Philosophie in eine kritische Theorie der Gesellschaft“ (Domininik Novkovic) am 04. Juli 2020 in eine Online-Konferenz zum Thema Kritische Perspektiven auf eine Universität 4.0: Philosophische Reflexion zur Geschichte, Gegenwart und Zukunftsperspektive einer Institution. Im Rahmen der Online-Tagung, die via Videokonferenz stattfindet, tragen die Studierenden der drei Seminare ihre Ergebnisse thematisch geclustert in kurzen Impulsvorträgen von 15 Minuten vor. Im Anschluss an jedes thematische Cluster wird das Thema in offener Runde diskutiert. Insgesamt 14 Studierende präsentieren so ihren Kommiliton*innen und den Dozent*innen die Arbeitsergebnisse eines Semesters, zugespitzt auf die Frage, wie eine Universität 4.0 aussehen könnte und welche Folgen eine Universität 4.0 für die Gesellschaft hätte. 
Im folgenden Beitrag wollen wir einen Überblick über die Online-Konferenz geben und spannende Diskussionsanstöße teilen.

Panel 1: Die Universität – vergangene und gegenwärtige Ansprüche

Elena Olmedo Viana: Die Magna Charta der Universitäten – eine Revolution des Gedankens der Universität?
Im ersten Vortrag des Tages stellt sich Elena Olmedo Viana die Frage, wie revolutionär bzw. innovativ die Magna Charta (1988) der Universitäten im Vergleich zu den aufklärerischen Gedanken zur Universität von Humboldt, Fichte und Schleiermacher[i] ist und kommt zu dem Schluss, dass sich viele Aspekte der Magna Charta schon in den Gedanken der Philosophen des frühen 19. Jahrhunderts finden lassen. Des Weiteren stellt sie fest, dass die Magna Charta eher eine Rückbesinnung auf die Denktradition jener Zeit ist, als eine revolutionierende Neuerfindung der Universität. Anzumerken bleiben jedoch innovative Neuerungen innerhalb der Magna Charta im Vergleich zur humanistischen Denktradition: so zum Beispiel die internationale Zusammenarbeit und die vorgenommene Öffnung der Universitäten für alle Menschen. Durch die Aktualität der Magna Charta stellt sich dementsprechend die Frage, wie modern unsere Universität heute wirklich ist, bzw. inwieweit auch die Universität heute entsprechend einer langen Traditionslinie gedacht wird.

Johannes Trayser & Carolin Angulo Hammes: Universität als Persönlichkeitsbildner*in und Hort der Kritik  
In ihrem Vortrag arbeiten Carolin Angulo Hammes und Johannes Trayser drei Grundlagen kritischen Denkens in Bezug zu digitalem Lernen/Lehren heraus, die notwendig sind, um Universitäten als Orte kritischer Persönlichkeitsentwicklung zu sehen: 1) Zeit für Diskussionen und Diskurse, 2) Offenheit aller Teilnehmer*innen gegenüber neuen Eindrücken und Ideen, sowie die Ergebnisoffenheit des Diskurses und 3) immanente Unvollständigkeit und Fehlertoleranz. Im Hinblick auf das digitale Sommersemester halten sie fest, dass zum einen die unverfänglichen Möglichkeiten für Diskussionen vor und nach dem Seminar, in der Mensa und im ungezwungenen Gespräch offensichtlich fehlen. Zum anderen, dass die Schriftlichkeit von Foren, Chats- und E-Mail-Kommunikation weniger fehlertolerant als das Gespräch ist, da mündlich weniger ausgeklügelte Gedankenformulierungen erwartet werden, als es in verschriftlichten Form der Fall ist. Generell lässt sich sagen, dass sich die charakter- und persönlichkeitsbildenden Momente der Universität eben nicht nur im Seminar oder einem etwaigen anderen Lehr-Lern-Format ergeben, sondern insbesondere das soziale Campusleben diese fördert.

Christina  Nielsen: Plínio Prado: Das Prinzip Universität (als unbedingtes Recht auf Kritik)   
Christina Nielsen arbeitet in ihrem Vortrag kurz und prägnant die fünf Hauptargumentationspunkte Plinio Prados („Das Prinzip Universität“)[ii]heraus: 1) Die unbedingte Unabhängigkeit, 2) die freie und öffentliche Ausübung des Denkens, 3) kritischer Aufruhr, 4) Zeit zum Verlernen und 5) das Universitätsprinzip als Widerstandsprinzip. Im Folgenden werden die Eckpunkte Prados idealer Universität mit deutschen Hochschulen verglichen, wobei untersucht wird, wie die Bologna-Reform und die Bildung von Exzellenzclustern diese verändert haben. Daraufhin wird die Universität als „Prinzip des kritischen Widerstandes, der Dissidenz“[iii] auf ihre gesellschaftliche Aktualität hin diskutiert. 

Diskussion
In der Diskussion der ersten drei Beiträge standen vor allem Fragen um die Wichtigkeit real-physischer interpersonaler Begegnungen im Zentrum. Ist die erste Begegnung aller Seminarteilnehmer*innen z.B. eine Online-Begegnung, wo sich die Beteiligten kaum oder gar nicht untereinander kennen, so gestaltete sich – so die Erfahrungsberichte – das Online-Semester auf sozialer Ebene wesentlich schwieriger, als in Kontexten, in denen sich ein Großteil der Teilnehmenden schon aus vorherigen Seminaren/Semestern oder privaten Kontexten kennt. Dies deutet darauf hin, dass das Pflegen sozialer Beziehungen zum einen relevant für den Lehr-Lern-Kontext ist, zum anderen dies im real-physischen Raum leichter fällt als im digitalen Raum. Aus dieser Prämisse ergaben sich unterschiedliche Folgefragen: Ist die Universität tatsächlich allen Menschen zugänglich? Erfahren Menschen aus weniger privilegierten Gesellschaftsschichten im Online-Semester, insbesondere hinsichtlich des Zugangs zur notwendigen Hardware, einen Nachteil an der Universität? Ist der interpersonelle Charakter von Universität Teil des Heran- und Herausbildens künftiger Akademiker*innen?

Panel 2: Postmoderne und aktuelle Schlaglichter zur Universität

Samuel Rettenmaier & Leonard Rininsland: Welche Bedeutung haben Kreativität und Intuition für Forscher*innen?   
In ihrem Vortrag stellen Samuel Rettenmaier und Leonard Rininsland zunächst heraus, dass Intuition stets am Anfang eines wissenschaftlichen Prozesses stehen muss, quasi als Auslöser/Aufhänger, wohingegen Kreativität erst im wissenschaftlichen Prozess eine Rolle spielt. Sie kann nicht am Anfang stehen und den Prozess auslösen, sondern braucht einen Anstoß, um in Gang gesetzt zu werden. Sie vertreten in ihrem Vortrag die These, dass sich Digitalisierung vitalisierend auf Kreativität und Intuition im wissenschaftlichen Betrieb, insbesondere in der Forschung, auswirken kann und stellen sechs vitalisierende Faktoren von Digitalisierung vor: 
1. Personalisierung/Individualisierung des Biorhythmus, 2. Vereinbarkeit von Arbeit und Freizeit (Sport) sowie Familie (Kinderbetreuung), 3. Entschleunigung im Lernprozess (z.B. können Videos im Gegensatz zu einem realen Gespräch wiederholt und pausiert werden), 4. Ortsunabhängigkeit, 5. Internationalisierung und Vernetzung sowie 6. Technische Innovationen.

Conny Marcus Rennhack: Jacques Rancière: „Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über intellektuelle Emanzipation“[iv]
Conny Marcus Rennhack stellt in seinem Vortrag über den unwissenden Lehrmeister die wichtigsten Aspekte der Gedanken Rancières in Bezug zu Jacotot (dem unwissenden Lehrmeister) dar. So hielt der französische Gelehrte Jean Joseph Jacotot Anfang des 19. Jhd. eine Vorlesung an der Universität Löwen (Niederlande) – doch sprach weder er Niederländisch noch seine Studierenden Französisch. Dies bewegte ihn zu dem Experiment, die Studierenden eine zweisprachige (niederländisch-französisch) Ausgabe des Telemach lesen zu lassen. Ohne ihnen aktiv Französisch beizubringen, so stellte er im Verlauf des Seminars fest, konnten sie am Ende selbst komplexe Sachverhalte mit ihm auf Französisch diskutieren. Als interpretative Konsequenz sieht Rancière hier folgende, stark verkürzte, Gedanken: Anstatt von wissenden Lehrmeistern zu verlangen, dass sie Studierenden ihr Wissen von oben herab beibringen und es auf dem Weg überdurchschnittlich vereinfachen, argumentiert Rancière, dass Studierende wie Lehrende alle die gleiche Intelligenz besitzen und der Weg des Lernens von oben herab sich eher verdummend[v] auswirkt. Der Lehrmeister muss demnach nicht mehr wissen (und kann unwissend sein), als seine Studierenden.

Frederik Metje: Eindrücke zur akademischen Disziplin mit Paul de Man
Anhand des Textes „Der Widerstand gegen die Theorie“[vi] stellte Frederik Metje in seinem Vortrag die Frage, wie sich akademische Disziplinen charakterisieren lassen. Paul de Man ist hier mit seinen Ausführungen zu einem linguistisch-postmodernen Verständnis von Literaturtheorie Gewährsmann und liefert drei Eindrücke zur Ausgangsfrage: 1) Zum einen scheint eine akademische Disziplin letztgültig nicht definierbar, würde dies bedingen, dass ihre Außengrenzen und damit ihr Verhältnis hin zu anderen Disziplinen und Bereichen jenseits der Akademien fixierbar wären. Hierin besteht die persönliche Feststellung und Ausgangsüberlegung Paul de Mans. 2) Mit de Man wird nun überlegt, ob nicht durch den Widerstand gegen und damit im Streit um eine Disziplin, eine solche definitorisch fassbar werden könnte. Auch diesem Vorgehen muss eine Absage erteilt werden, denn de Man sieht keine tiefgreifende Auseinandersetzung in den Attacken eines sprach- und literaturwissenschaftlichen Mainstreams, sondern nur uninformierte Grabenkämpfe um wissenschaftliche Stellungen. 3) Paul de Man schlägt daher vor, die Literaturtheorie selbst als immanent widerständig zu begreifen – gegen die Dominanz von Grammatik und Logik in der Literatur sowie gegen sich selbst als Verteidigerin der Rhetorik. Frederik Metje fragt abschließend, ob eine Disziplin mit Widerständigkeit gleichgesetzt werden kann.

Diskussion
Die Diskussion innerhalb dieses Panels erweiterte die vorangegangene Diskussion aus Panel 1, indem zum einen der Fokus auf die Chancen einer Universität 4.0 gelegt wurde, andererseits die Gedanken um Universität, um die Prämisse des Lernenden-Lehrenden-Verhältnisses sowie der akademischen Disziplinarität erweitert wurde. Der daran anknüpfende Austausch war vor allem erfahrungsbasiert und rückte das aktuelle Corona-Semester in den Mittelpunkt. Es war dabei spannend zu beobachten, dass vor allem der universitären Lehre ein interpersoneller Charakter zugesprochen wurde, was diverse Fern- und Fachhochschulen einen expliziten Sonderstatus gab. Ein zentraler Diskussionspunkt bestand in der Frage des Zeitmanagements eines Studiums. Hierbei war das Plenum hinsichtlich einer etwaigen Erleichterung insbesondere von nebenverpflichteten Studierenden (Eltern, Teilzeitarbeitende, Pflegende, Vielfachstudierende z.B.) durch digitale Flexibilisierung gespalten.

Panel 3: Der Impact der Digitalisierung auf Wissenschaftsdiskurse

Sophia Liberis & Roman René Reinshagen: Zum Für und Wider der Peer-Review-Kultur im Wissenschaftsdiskurs 
In ihrem Vortrag stellen Sophia Liberis und Roman René Reinshagen zunächst die unterschiedlichen Peer-Review-Verfahren vor. Den Wandel von Peer-Review-Verfahren weg vom Zensurinstrument hin zu einer operativen Qualitätssicherung im Blickfeld habend, stellen sie fest, dass es keine standardisierten Peer-Review-Verfahren gibt. Unterscheiden lassen sich zunächst jedoch drei Varianten: Das Single-Blind-Verfahren, das Double-Blind-Review und das Open-Review. Im ersten Fall (Single-Blind) ist dem*der Gutachter*in die*der Autor*in bekannt, jedoch dem*der Autor*n der*die Begutachtende unbekannt. Im Double-Blind sind sich beide Parteien unbekannt und im Open-Review kennen sich beide. In allen Verfahren ist die Objektivität nicht zwingend gegeben. Durch digitale Open-Review-Verfahren erhofft man sich häufig eine höhere Transparenz in der Begutachtung und durch kollektives Arbeiten zudem eine erhöhte Objektivität. Es lässt sich zur Diskussion stellen, ob und inwiefern Kollektive tatsächlich objektiver bewerten als Einzelpersonen, da häufig Kollektive innerhalb eines Diskurses recht meinungshomogen sind. Im zweiten Teil des Vortrages gehen die Referent*innen der Frage der Forschungsfreiheit auf den Grund und arbeiten heraus, dass Forschungsfreiheit zum demokratischen Grundverständnis unserer Gesellschaft gehört und sich demokratiestabilisierend auswirken kann. Forschungsfreiheit als demokratisches Recht geht einher mit dem gesellschaftlichen Recht auf freie Meinungsäußerung. Absolut freie Forschung kann jedoch nie existieren, da Forschung stets in moralisch-ethische Gesellschaftskontexte eingebettet ist und darüber hinaus stets von finanzieller Förderung abhängt.
         
Hannes Wicke: Publikationen im Zeitalter der Digitalisierung und die Veränderung der Begriffe von ‚Werk‘ und ‚Autor‘   
In seinem Beitrag stellt Hannes Wicke zunächst verschiedene kollaborative Online-Plattformen vor, um anhand ihrer den von Fichte geprägten Werkbegriff, der klare Autor*innenschaft und die Abgeschlossenheit des Werkes beinhaltet, in Frage zu stellen. Bekannte kollaborative Plattformen mit Open-Review sind z. B. Wikis wie das GuttenPlag Wiki oder das Portal de.hypotheses.org. Das Open-Review fungiert hier als eine Art akademisches social reading, das jedoch Anonymität wahrt und keine akademische Qualifikation voraussetzt. So triumphiert die Weisheit der Vielen über das Wissen der Eliten.[vii] Dies wirft mit Blick auf Wikis wie das GuttenPlag Wiki die Fragen auf, inwiefern das Prüfen von Wissenschaftlichkeit durch nichtwissenschaftliche Gesellschaftsmitglieder Wissenschaftlichkeit fördert und inwiefern transparente Autor*innenschaft zum guten/redlichen wissenschaftlichen Arbeiten gehört und durch Anonymität untergraben werden kann. Das Format hypotheses.org stellt seinerseits wiederum die Autor*innenschaft in ganz andere Weise in Frage, insofern es das modifizieren, umschreiben, inhaltliche abändern aller dort publizierter Beiträge lediglich mit Verweis auf ‚das Original‘ zulässt. So werden durch unterschiedliche kollaborative Arbeitsweisen die klassischen Begriffe von Autor*in und Werk im digitalen Zeitalter neu verhandelt.

Diskussion
In diesem Panel zeigten sich die meisten Studierenden verwundert, da die Praxis des Peer-Review unbekannt war. Mit leichter Verwunderung wurde hier hinterfragt, inwiefern eine Gatekeeper-Funktion der Peers vorbelastet sein muss von der eigenen Karriereplanung und inwiefern dann diese Art der Qualitätssicherung überhaupt taugen kann, um innovative Ansätze in den wissenschaftlichen Diskurs zu überführen. Die Forschungsfreiheit wurde vor dem Hintergrund einer Universität 4.0 kontrovers besprochen, Dystopie und Utopie gaben sich hier abwechselnd die Klinke in die Hand. Einerseits, so die Meinung einiger Studierender, führt eine digitalisierte Forschungslandschaft unter dem Primat der Open Source Kultur an ein Ideal heran, welches einer idealen Universität im Sinne Prados in einer klassenlosen oder wenigstens kritisch-klassenbewussten Gesellschaft gerecht wird. Andererseits offenbaren derartige Gedankenspiele offensichtliche realpolitische Probleme, beispielsweise vor dem Hintergrund der Cloudspeicherung und eines länderübergreifenden Copyrights.

Panel 4: Bildungsverständnisse im Anschluss an die Theorietradition der Kritischen Theorie

von: Lasse Schauder, Adrian Stender, Jennifer Langer 

Die drei Referent*innen des 4. Panels widmeten sich einer ausführlichen Darstellung der Theorieansätze der Frankfurter Kritischen Theorie im Anschluss an Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse, um so einen kritischen Blick auf Bildung in Zeiten ihrer gesellschaftlichen Vereinnahmung und ihrer emanzipativen Transformationsmöglichkeiten und -potenziale zu werfen. Im ersten Beitrag fokussierte sich Lasse Schauder auf Adornos „Theorie der Halbbildung“ und dem darin ausgeführten dialektisch-geschichtsmaterialistischen Bildungsverständnis. Die Aktualität der von Adorno diagnostizierten Uniformierung der Bildung betonend, gelang es dem Referenten die gesellschaftliche Formbestimmtheit von Bildung und die daraus abzuleitende ungleichheitsbezogene Dimension des gesellschaftlichen Bildungsprozesses in den Vordergrund zu rücken. Zum Abschluss sollte jene systematische Darstellung der Bildungsbewegung mit der aktuellen Entwicklung des digitalen Zeitalters konfrontiert werden. 
Jennifer Langer thematisierte das Analysepotential und den Perspektivenreichtum von Herbert Marcuses Werk „Der eindimensionale Mensch“. Die Referentin stellte heraus, dass die Aufgabe der Kritischen Theorie nach Marcuse darin besteht, Alternativen zu aktuellen gesellschaftlichen Situationen zu finden, indem z.B. die Ressourcen zur optimalen Entwicklung genutzt werden. Die Universität organisiert als Institution u.a. Wissen und kann so zu dieser Entwicklung beitragen. Auch sein intellektueller Weggefährte, Max Horkheimer, sieht in der Universität den Ort, der dem inhumanen Betrieb der Massengesellschaft entgegenwirken sollte.
Im Anschluss daran versuchte Adrian Stender die Kritische Theorie in ihren utopischen Motiven einer kritischen Lesart zu unterziehen. Der Referent macht darauf aufmerksam, dass die Universität als Ort zur Entfaltung der menschlichen Anlagen und als Ort des Widerstands in der derzeitigen Krise der Bildung ihren eigenen Anspruch zu verlieren droht. In der Problemskizze wurden anhand des Begriffs der Bildung (Horkheimer), der Theorie der Halbbildung (Adorno) und der Eindimensionalität des Denkens (Marcuse) Gefahren der Digitalisierung sowohl im universitären als auch zivilgesellschaftlichen Raum aufgezeigt. Durch die Verkehrung von Mittel und Zweck innerhalb des Bildungssystems scheint der Anspruch der Kritischen Theorie, Kritik und Widerstand zu leisten, infolge der zunehmenden Digitalisierung, die gegenwärtig zu einer Verdinglichung des Menschen führt, verloren zu gehen.
In der zunehmenden Digitalisierung sehen alle drei Referent*innen Chancen wie auch Probleme. Auch hier gilt, dass diese sich, wenn sie den aktuellen Tendenzen entgegenwirken, positiv auswirken können. Wenn die Universität also zunehmend digitalisiert wird, darf sie sich nicht noch weiter zu einer Institution entwickeln, die die Inhumanität, die Eindimensionalität und das Objekt-Werden der Menschen fördert, indem z.B. die Zahl der Studierenden in den Seminaren zu groß wird und somit auch jegliche zwischenmenschliche Kommunikation und kritische Beschäftigung ausbleiben muss. Die Entwicklungen, die die Digitalisierung an Universitäten letztendlich mit sich bringt, bleiben abzuwarten.

Diskussion
Die Beiträge dieses Panels regten zu kritischen Diskussionen über die historische Gewordenheit der Bildungs(de)formation wie auch zu einer Inblicknahme zukünftiger Bildungsstrategien und -praxen im Horizont universitärer Bildung an. Bemerkenswert war die Intensität der Diskussionen im Zuschnitt auf Fragen nach dem starken Zusammenhang von Bildung und sozialer Ungleichheit sowie die dem Bildungsbegriff inhärente Politizität, die in den heutigen Diskussionen oftmals verkannt oder tabuisiert wird. Damit ist es den Referent*innen auf beeindruckende Weise gelungen, Aktualität und Perspektiven der Kritischen Theorie im Hinblick auf Bildungs- und Gerechtigkeitsfragen erneut in den philosophischen Diskurs zu tragen und oppositionelles Denken, das dem nach wie vor am unabgegoltenen Anspruch auf Bildung als Emanzipation des Menschen festhält, als wichtiges Unterfangen zu skizzieren. 


Dieser Blogbeitrag entstand in gemeinschaftlicher Arbeit. Autor*innen:
Dominik Novkovic, Elena Olmedo Viana, Frederik Metje, Simon Rettenmaier, Verena Häseler


[i] Vgl. Fichte 1807, Schleiermacher 1808, Humboldt 1809/10.

[ii] Prado 2010.

[iii] Prado 2010, 50.

[iv] Rancière 2009.

[v] Vgl. Ranciere, 2009, S. 23ff.

[vi] de Man 1982.

[vii] Vgl. Ernst 2015, 71.


Literaturverzeichnis:

de Man, Paul: „Der Widerstand gegen die Theorie.“ (1982), in: in: Johanna-Charlotte Horst et al (Hrsg.): Was ist Universität? Texte und Positionen zu einer Idee (Unbedingte Universitäten), Zürich 2010, S. 155-178. (de Man 1982)

Ernst, Thomas: „Vom Urheber zur Crowd, vom Werk zur Vision, vom Schutz der Öffnung? Kollaboratives Schreiben und Bewerten in den Digital Humanities“ in Baum, Constanze & Thomas Stäcker (Hrsg.): Grenzen und Möglichkeiten der Digital Humanities, Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, Wolfenbüttel 2015. (Ernst 2015)

Fichte, Johann Gottlieb: „Deducierter Plan einer zu errichtenden höheren Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaft stehe“ (1807), in: Johanna-Charlotte Horst et al (Hrsg.): Was ist Universität? Texte und Positionen zu einer Idee (Unbedingte Universitäten), Zürich 2010, S. 27-44. (Fichte 1807)

Magna Charta, Bologna 1988.

Observatory Magna Charta Universitatum: „The Magna Charta“, in: Website der Magna Charta, 2018, URL: http://www.magna-charta.org/magna-charta-universitatum [letzter Zugriff: 07.06.2020]. (Magna Charta 1988)

Rancière, Jacques: Der unwissende Lehrmeister: fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2., überarb. Aufl., Wien, Passagen-Verl., 2009. (Rancière 2009)

Schleiermacher, Friedrich: „Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn. Nebst ein Anhang über eine neu zu errichtende“ (1808), in: Johanna-Charlotte Horst et al (Hrsg.): Was ist Universität? Texte und Positionen zu einer Idee (Unbedingte Universitäten), Zürich 2010, S. 59-79. (Schleiermacher 1808)

Von Humboldt, Wilhelm: „Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin“ (1809/10), in: Johanna-Charlotte Horst et al (Hrsg.): Was ist Universität? Texte und Positionen zu einer Idee (Unbedingte Universitäten), Zürich 2010, S. 95-103. (Humboldt 1809/10)

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