Der jüngste Kursumschwung der Bundes- und Landesregierungen in der Corona-Pandemie führt zum zweiten Shut-Down im Jahr 2020 und beflügelt so eine Diskussion, die sich schwelend bereits seit Wochen in Familien und Freundeskreisen ankündigte – pointiert auf eine Frage gebracht: Feiern wir Weihnachten – wie gewohnt – zusammen?
An sich ist diese Frage nicht neu. Sie begegnete in abgewandelter Form wohl jeder*m von uns im Verlauf dieses pandemiegeprägten Jahres – zu Geburtstagen und Hochzeiten, Familienfeiern und Beerdigungen. Weihnachten, und einige Tage später auch Silvester, synchronisieren diese Frage des Zusammenkommens für weite Bevölkerungsteile auf diese paar Tage, die ‚nur einmal sind im Jahr‘.
Und gerade aufgrund dieser Seltenheit meinen einige nun eine besondere Ausnahme machen und die Pandemie zugunsten familiären Miteinanders kurzzeitig aussetzen zu können, wenn sie sich 2020 nicht ohnehin schon des Öfteren ausnahmen. Manch andere sind bereits seit einigen Tagen in selbstverordneter Quarantäne, um schließlich möglichst risikoarm bei den Großeltern einzukehren. Wieder andere entziehen sich dagegen dem weihnachtlichen Beisammensein in Gänze und hoffen zumindest via Zoom, Skype und Co. jene zu Gesicht zu bekommen, mit denen sie üblicherweise gemeinsam Weihnachten feiern. Und wieder anderen sind womöglich froh, dieses Jahr nicht aus Pflicht- oder Schuldgefühl Heim fahren zu müssen, ja legitimiert durch die Ansteckungsgefahr fern bleiben zu dürfen.
Ich will folgend weder raten, wie sich bestenfalls zu verhalten ist, noch einen Weg vorschlagen, den ich für richtig halte. Wie könnte ich auch, habe ich immerhin über zwei Wochen Optionen abgewägt und mehr als nur einmal eine Entscheidung getroffen. Zu unserer ersten Blogreihe auf philosophike, gaben mir diese Tage aber zu denken, obwohl ich mich seit geraumer Zeit schwer tue zum Thema „Stellung beziehen“ Stellung zu beziehen. Folgend will ich einige meiner Gedanken zusammentragen. Es sind persönliche und philosophische, Assoziationen, Eindrücke, sicher auch Irrtümer und vor allem Fragen. Bei den folgenden Zeilen handelt es sich also um ein Sammelsurium, das keiner konsistenten Argumentationskette folgt. Vielmehr kreisen meine Gedanken um einen aktuellen Gravitationspunkt: um das Zusammenseins zu diesem Weihnachtfest und der Stellungen, die wir aufgrund der Pandemie dazu beziehen. Es handelt sich, um es mit dem Wort einer lieben Freundin zu sagen, um „Gedankenkonfetti“ zu der Differenz, die ich zwischen dem Beziehen einer Stellung und dem Stellung beziehen vermute.
I. Stellung beziehen
Fangen wir mit dem Stellung beziehen an. Es vermag wie folgt auszusehen: Bereits Ende November rufe ich meine Eltern an und zwischen allerlei Alltagsgespräch erkläre ich, Weihnachten nicht nach Hause zu kommen. Selbstverständlich begründe ich meine Ausführungen, verweise auf die hohen Zahlen des Robert-Koch-Instituts und auf die Bedrohung für die Gesundheit unserer Familie, in der fast allen der Status ‚Risikogruppe‘ zu Teil wird.
Stellung beziehen mag in einem alltagsverständlichen, beinahe militärischen Sinne das Beziehen einer Position gegenüber jemandem (einem Gegner oder Feind) oder etwas (die Welt, die Gesellschaft oder einen Virus) bedeuten. Die Position ist mehr oder minder mit Ressourcen ausgestattet (Gründe und Argumente), die sich im strategisch geeigneten Moment mobilisieren lassen – ‚Ich komme nicht, sieh dir die Zahlen an‘ oder ‚ich fühle mich einfach nicht wohl bei der Sache‘.
In dieser herkömmlichen Auffassung wird ferner davon ausgegangen, dass es sich beim Stellung beziehen um einen bewussten Akt handelt, eine Verlautbarung oder einen Appell an die anderen und/oder sich selbst. So verstanden macht sich das Stellung beziehen der Aufklärung und ihrer Axiomatik anheischig entsprechend der es das vernunftbegabte, menschliche Individuum ist, das, frei nach Kant und aller Widrigkeiten zum Trotz, sich des eigenen Verstandes bedient.[i] Und dieses Beziehen ist ein mutiger, ja womöglich gar heroischer Akt – gegen (womöglich aber auch gerade für) eine vorherrschende Meinung, die Unvernunft oder familiäre Gepflogenheiten. Stellung beziehen lässt sich dementsprechend als Resultat vermeintlich vernünftigen Abwägens von Für und Wider lesen – um am Telefon hoffentlich klar Stellung beziehen zu können oder zumindest eine Strategie parat zu haben, die sich um Corona-Tests und Quarantänezeiten dreht.
Ein solches Stellung beziehen scheint mir außerdem eine enge, aber keine notwendige Beziehung zum Konflikt zu unterhalten. Der latente oder auch offene Konflikt scheint das Schlachtfeld zu markiert, auf dem Stellungen bezogen wird und er kann durch einen Stellungsbezug Anlass oder auch Ende finden. Und auch das erwähnte Abwägen zeigt sich anlässlich der pandemiebedingten Feiertage bei manchen weniger als ein vernünftiger Entscheidungsprozess, denn als innere Konflikt. Letzteres war es auch für mich. Das Gespräch mit meiner Familie verlief nicht konfliktreich, ja ich habe sogar viel Zuspruch für meine Ansicht erhalten. Doch der Stellung, die ich so sicher einnahm (und von der ich übrigens alsbald abwich…), ging ein langwieriger, innerer Zwist voraus.
Stellung beziehen ist schließlich ein ‚Kante zeigen‘ und es haftet ihm häufig etwas Schroffes an, wie grobes Schleifpapier auf frischem Holz. Der zweite Blick mag aber zeigen, dass solche Kanten oft abgerundete sind. Das Schleifpapier hat gute Arbeit geleistet, wenn das bewusste Beziehen einer Stellung keine klare Position birgt: Wie er es mit dem Familienfest mache, habe ich meinen Bruder gefragt. „Ich schließe mich einfach dir an“, antwortete er.
Was ist hier passiert? Gab mein Bruder seine Stellung oder gar jede Möglichkeit eine solche zu beziehen auf? Hat er gerade nicht Stellung bezogen – in einem bewussten, womöglich heroischen Akt wie ich zuvor skizzierte? Hat er sich womöglich aus der Stellung und mit ihr, aus dem Konflikt in Gänze zurückgezogen; ist freimütig in meinen Gängelwagen gestiegen? Oder hat er womöglich gerade Stellung bezogen, hat Für und Wider abgewogen und beschlossen sein weihnachtsabendliches Schicksal in meine Hände zu legen – weniger heroisch, doch mit guten Gründen und Kraft seiner Vernunft? Hat er die Stellung bezogen, sich mir anzuvertrauen? Repräsentiere ich nun im Umkehrschluss seine Stellung?
Die zweite dieser beiden Lesart scheint mir jedenfalls die unorthodoxe, führt sie das alltagsverständliche Stellungbeziehen an seine Grenzen. Denn sie rückt die Stellungen ins Licht, die so klar nicht sind – die des ‚ich weiß es nicht‘, des ‚vielleicht‘, ‚mir egal‘ oder des ‚ich schließe mich dir an‘. Sie kommt in Grautönen daher anstatt in Schwarz und Weiß. Solche Positionen sind gemeinhin keine, werden als Stellungsbezüge nicht gesehen oder gezählt.[ii] Mir scheint, wir sprechen ihnen oft ab, eine Rolle in Konflikten zu spielen, die zwischen Stellungen toben und beschuldigen Sie gar durch ihre ‚unklare Position‘ Prozesse zum Erliegen zu bringen. Die alltagsverständliche Auffassung, das Stellung beziehen, negiert folglich nicht nur jene, die nicht Stellung beziehen wollen oder können, sondern auch solche, die eine Stellung beziehen, dies aber in keiner der Situation angemessenen Weisen tun. Womöglich aber beziehen sie Stellung nicht im Konflikt, sondern zu diesem? Sicher ist aber auch das nicht immer der Fall. Mein Bruder und ich teilen jedenfalls eine Entscheidung, die ich schweren Herzens gefällt haben werde – ohne behaupten zu wollen, er habe es sich einfach gemacht und keine getroffen.
II. Stellung beziehen
Bislang stand das Primat des Beziehens im Vordergrund, der bewusste Akt. Lösen wir uns von diesem und gehen über zum Primat der Stellung, in der wir uns unbewusst stets befinden: Einige meiner Bekannten sind skeptisch gegenüber der Pandemie und sehen in Corona nicht mehr als eine medial aufgebauschte Grippewelle. Für sie existiert folglich kein Konflikt um das Verhalten zu den Festtagen, Heilig Abend steht nicht zur Disposition. Die eingangs angeführte Frage, ob wir denn Weihnachten zusammen feiern, ist somit keine, die sich ihnen stellt. Alles was dem gemeinsamen Weihnachtsfest, und damit dem Status Quo widerspricht, wird unmerklich sozial geahndet.
Ich habe mich erneut gefragt, was mich bereits diese gesamte Blogreihe über beschäftigte und mich im Gespräch mit lieben Menschen irritierte: Beziehen wir nicht immer Stellung? Beziehen meine Bekannten nicht dadurch Stellung zur Pandemie, dass sie nicht über sie sprechen, sich nicht von ihr tangieren lassen – sofern das bei einem bundesweiten Lock-Down überhaupt möglich ist? Zugespitzter und allgemeiner noch: Beziehen wir nicht immer unbewusst und unweigerlich eine Stellung in der Welt? Nehmen wir körperlich nicht stets eine gewisse Stellung ein, ist unser Körper vielleicht immer ‚gestellt‘? In diesem Fall beziehe ich durch die Plastikgeschenke für mein Patenkind Stellung zur Umweltverschmutzung, ich beziehe Stellung gegen ein tierisches Leben, indem ich eine Gans kaufe und für Pegida, weil ich nur einmal und nicht jedes Mal gegen sie demonstriert habe.
Die Stellung wäre dann nur eine Momentaufnahme eines immerwährenden, prozessualen Beziehens zwischen uns und der Welt. Stellung beziehen wäre dann weder bewusster noch mutig-heroischer Akt, sondern Modus Operandi des Daseins – unabhängig von Konflikt und die ganze Bandbreite affektiver Zustände abdeckend, vom abwendenden Ekel, über die lähmende Angst bis hin zur vereinenden Lust. Wir beziehen also nicht Stellung, sondern sind stets in Stellung bezogen und glauben lediglich in einem Akt des kritisch-reflexiven Beziehens eine besondere Rolle in der Welt zu ergreifen.[iii]
Diese Lesart scheint noch unorthodoxer als die vorherige. Sie denkt das Stellung beziehen nicht vom Beziehen, sondern von der Stellung aus, von der aus wir auf die Welt bezogen sind – auf Tiere und Pflanzen, Technologien und Rohstoffe, nahe wie ferne Menschen. Sie stellt den aufklärerischen Vernunftanspruch und den anthropozentrischen Akt hinten an und vergewissert sich des Ausblicks von der Stellung aus, in der wir uns bereits befinden und permanent neu lokalisiert werden. Stellung beziehen mag in diesem Fall darin bestehen, um Rosi Braidottis Perspektive aufzugreifen, die variablen Stellungen sowie die Bewegungen menschlicher und nicht-menschlicher ‚Subjekte‘ zwischen ihnen zu kartografieren.[iv]
Ein solches Stellung beziehen liefert einen Blick für die Details, für die kleinen und unbewussten Stellungen, in die wir bezogen sind. Allerdings ist es herausfordernd sich nicht in diesen Details zu verlieren und einen Blick für Drängendes zu bewahren. Zudem droht diese posthumanistische Lesart des Stellungbeziehens das Individuum seiner Handlungsfähigkeit zu berauben oder ihm gar jedwede Verantwortung für sein Handeln zu entziehen: Ich frage mich, wie sich meine Bekannten, die wie gewohnt das Weihnachtsfest feiern, dieser Lesart folgend für den etwaigen Fall einer Ansteckung verantwortlich machen lassen; für eine Stellung, die sie bezogen, auch wenn sie nie bewusst eine bezogen?
Zwischen Stellung beziehen und Stellung beziehen
Zwei Varianten – ein bewusstes Beziehen einer Stellung (I.) und die immerwährende, unbewusste Bezogenheit in einer Stellung (II.) –, die nicht miteinander vereinbar sind, aber auch nicht gänzlich ohne einander auskommen: Wenn wir nur beim bewussten Beziehen vom Stellung beziehen sprechen können – auch wenn diese sich anderen anlehnt –, dann drohen wir die Nuancen zu vergessen zu denen wir Stellung in einer Welt zunehmender Komplexität beziehen – zu AGBs, Menschenrechten und Plastikmüll. Das Stellung beziehen aber auf jedwede Stellung auszudehnen, droht es mit Komplexität zu überlasten, es zu lähmen und so die oft nötige Schlagkraft zu rauben, die im bewussten Akt des Beziehens zum Ausdruck kommt. Mir scheint die Form des Stellungbeziehens wie die eines Möbiusbands, das, folgt man ihm, ganz unbemerkt von der Innen- auf die Außenseite wechselt und zurück, nur um schließlich wieder am Startpunkt zu enden. Ist Stellung beziehen womöglich unweigerlich in dieser Differenz zwischen bewusstem Beziehen und unbewusster Stellung gefangen? Impliziert Stellung beziehen womöglich stets das Beziehen einer Stellung in dieser Differenz?
Am Ende und in Rückschau auf diesen Text frage ich mich, ob womöglich meine Ausführungen selbst zum Prozess des Beziehens geworden sind. Falls dem so ist, ist dieses Beziehen so weit ins Stocken geraten, dass eine Stellung erreicht wurde, die zuvor nicht vorhanden war? Habe ich widererwartend Stellung bezogen – zum Weihnachtsfest oder „Stellung beziehen“? Und falls dem so ist, worin besteht dann die von mir bezogene Stellung – in der Wahl der Begriffe oder familiären Erzählungen; der Fixierung dieser in einer zeilenhaften Spur; den Aussagen oder dem Medium des Textes? Anders: Wo begann, falls überhaupt, das Beziehen einer Stellung; wann schlug das Referieren in Referenz um, obgleich sie doch nicht das Selbes sind? Wann ist Stellung bezogen? Und was sage ich nun bloß meinem Bruder, wo werden wir Weihnachten feiern?
[i] Vgl. Immanuel Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«. Erstmals erschienen in der Berlinischen Monatsschrift, in: Immanuel Kant (Hg.), Ausgewählte kleine Schriften, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1969, S. 1-9, hier S. 1.
[ii] Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2014.
[iii] Brian Massumi/Erin Manning/Claudia Weigel: Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin: Merve Verlag 2010.
[iv] Vgl. Rosi Braidotti: »A Theoretical Framework for the Critical Posthumanities«, in: Theory, Culture & Society 36 (2019), S. 31-61, hier 32 ff.