Eine Stellungnahme zum Stellungbeziehen: Wer den Pluralismus will, muss für ihn streiten!

Eine Stellungnahme zum Stellungbeziehen: Wer den Pluralismus will, muss für ihn streiten!

Als die Psychoanalytikerin und Psychologin Else Frenkel-Brunswik 1949 den Begriff der Ambiguitätstoleranz definierte[i], war weder die Höcke-AfD noch Covid-19 in Deutschland ein Thema. Was sie sich in ihren Studien anschaute, war vielmehr das menschliche Unvermögen, Uneindeutigkeiten zu ertragen. Menschen sind stets mit uneindeutigen Interpretationsfeldern konfrontiert, welche sie dazu nötigen, in Eigenregie die Welt zu klären, zu ordnen und zu sichten. Ist mein Gegenüber müde oder zornig, traurig oder schmerzerfüllt? Das menschliche Leben ist stets durch ambige Ungewissheit herausgefordert und somit angestrengt von der Uneindeutigkeit und dadurch motiviert, Eindeutigkeit schaffen zu wollen.

Diese erkenntnistheoretische Herausforderung beeinflusst auch die Gestaltung des sozialen Umfelds. Wenn möglich, sucht man sich verlässliche Alltagsparameter oder wenigstens solche, die eine Risikoabschätzung erlauben und nicht von Ambiguität – also einer Mehrdeutigkeit und somit einer tatsächlichen Ungewissheit – geprägt sind. Der Mensch sehnt eine Einordnung in gut und schlecht, in schwarz und weiß herbei. „Ambiguitätsintoleranz entsteht ja auch leicht auf dem Boden von persönlicher Unsicherheit und Unsicherheitsabwehr“[ii] so Christopher Beathge,  Professor für Psychiatrie, was eine steigende Anzahl an Populist*innen in Politik und Medien wenig verwunderlich erscheinen lässt.

Einfache und klare Lösungen werden vor allem dort gesucht wo sich Sachverhalte für den Einzelnen als ‚überkomplex‘ darstellen. Es bedarf scheinbar einer Vereindeutigung der Welt – so auch der Titel eines Spiegel-Bestsellers von Thomas Bauer aus dem Jahr 2018. Diese Tendenz zur Vereinheitlichung der Welt  erklärt auch den Zulauf der AfD, einer Partei, die insbesondere durch einfache Antworten auf komplexe Sachverhalte polarisiert. Und sie erklärt auch das blinde Vertrauen in die Ansichten weniger Virolog*innen, auf der Suche nach einer angemessenen Bekämpfung der Coronavirus-Erkrankung. Nun sind die Gemengelagen im Falle einer zunehmend erstarkenden politischen Partei mit denen einer Pandemie selbstredend nicht in allen Teilen vergleichbar. Allerdings, so eine mögliche philosophische Anamnese, trüben in beiden Fällen die gleichen Vermeidungsstrategien den analytischen Blick ein: Ein fehlendes Bekenntnis zur eigenen Meinung, ein Vermeiden des argumentativen Stellungbeziehens sowie die Fähigkeit, offenkundigen Dissens auszuhalten.

Betrachtet man die Ohnmacht heutiger Demokrat*innn im Umgang mit der AfD, fällt auf, dass oft ein Streit mit AfD-Funktionär*innen und Sympathisant*innen zumeist von vorneherein versagt wird. Oftmals geschieht dies dazu im Zeichen der Demokratie. Man spricht nicht mit Rechten, man ächtet die AfD. Tatsächlich scheint dieses Verhalten unsinnig und undemokratisch, es erscheint radikal, anti-aufklärerisch und geschichtsvergessen. Wer unsere Werte gegen Rechts zu verteidigen sucht, muss die Grundlegung der Werte im Sinn behalten. Die deutsche Gesellschaft ist durch ein Bekenntnis zum Pluralismus geprägt, durch ein unbedingtes Bekenntnis, welches im Angesicht unserer Geschichte unumstößliche Geltung beansprucht. Religionsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit – ein Besinnen, Verteidigen und Bewahren der Freiheit als höchstes Gut folgt der Tradition unserer Gesellschaft und bildet sich im Grundgesetz ab. Man darf also ruhig anderer Meinung sein, der Dissens ist bereits immanenter Teil der Verfassung. Wer den Dissens jedoch nicht austrägt, ihn nicht verbalisiert und im Streit um eine Möglichkeit des Streits erkämpft, vergeht sich am Manifest unserer Werte.

Unsere pluralistische Gesellschaftsform fordert verschiedene Positionen heraus und stellt Arenen im Zeichen demokratischer Streitkultur zur Verfügung. Antidemokrat*innen müssen hier argumentativ entwaffnet werden und im besten Fall fängt man damit im eigenen Haus an. Bei Vater und Mutter, Onkel, Tante,  dem Hausmeister und der Postbotin. Argumentativ und bekennend sollten die Demokrat*innen die Antidemokrat*innen zu stellen versuchen, anstatt durch Ignoranz die Bildung von Gesinnungsghettos zu befördern. Demokratie braucht Pluralismus und ein gelebter Pluralismus braucht Bürger*innen, die Stellung beziehen, ihre Meinungen vertreten und den Dissens als Weg zum Miteinander erkennen. Wer Stellung bezieht, muss andere stellen. Die AfD besteht nicht nur aus rhetorisch gewieften Politiker*innen. Die AfD ist die Summe einer vergrämten Wählerschaft, welche uns im Bekanntenkreis, Freundeskreis und Familienbund begegnet. Es ist ignorant und gefährlich, hier nicht den (durchaus freundlich gesinnten) Disput mit der direkten Umwelt zu suchen. Glauben mag Privatsache sein, die Parteienpräferenz sollte nun aber nicht zum religiösen Tabu erklärt werden. Und wenn die geheimen AfD-Anhänger*innen im Gespräch feststellen, dass sie nicht öffentlich für die AfD eintreten wollen und die Identifikation scheuen, dann ist das ja vielleicht auch ein gutes Ergebnis. Dieses Thema totzuschweigen stellt hingegen sicher einen Bärendienst für die pluralistische Gesellschaft dar.

Ein anderes Thema stellt die Krisenpolitik im Zeichen der Angst dar. Aktuell hält der Coronavirus Deutschland in Schach, die ganze Welt kämpft mit Covid-19. Die Politiker*innen stehen nun weltweit vor der Herausforderung, diese Pandemie mit angemessenen Mitteln des Krisenmanagements zu bekämpfen. Zu Beginn zeigte sich dabei eine Dynamik, die die Vermutung des Aktionismus zugelassen hat. Innerhalb weniger Tage und Wochen ist die Maßnahme der Ausgangssperre von einem ursprünglich totalitären Phantasma zur verhältnismäßigen Bürgeragenda mutiert und wird als solche von den Bürger*innen teils sogar in verstärkter Form eingefordert. Das Robert-Koch-Institut als engster Berater der Bundesregierung sowie eine Handvoll namhafter Virolog*innen prägen seit Beginn der Pandemievermutung mit täglichen Pressekonferenzen in TV und social media den öffentlichen Diskurs. Die Stilllegung von Kindergärten und Schulen, von Universitäten, Fach- und Volkshochschulen sowie einer Vielzahl von Geschäften und Fabriken war bereits nach wenigen Tagen vollzogen und erscheint heute als Normalität. Deutschland befindet sich im Begriff des Shutdowns.

Die Spötter der ersten Virusstunde, die sich noch über Hamsterkäufe in sozialen Medien belustigten, verstummten rasant und gründeten stattdessen Netzwerke zur Nachbarschaftshilfe. Solidarität lautet nun das alles prägende Schlagwort. Und doch kommen nun, nach wenigen Wochen, erste Zweifel auf mit Blick auf die Radikalität der inzwischen weltweiten Maßnahmen. Politische Maßnahmen, welche eine Aura von Notstand in Dystopia erzeugen, rahmen nun den Alltag der meisten Demokratien ein. In Indien führt der Lockdown zu zunehmenden Hungertoten, da die Ärmsten nicht mehr betteln können. Polizeiliche Übergriffe gehören hier inzwischen zum Alltag.[iii] In Südafrika bringt der Lockdown plündernde Straßengangs auf den Plan, die durch das menschenleere Kapstadt marodieren[iv] und in Österreich werden Spaziergänger*innen samt Kinder mit Hilfe von Drohnen überwacht[v]. Die Welt ist wesentlich aus den Fugen geraten und die Fragen nach der Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen werden immer lauter.

Die Zweifler*innen sprechen noch leise und hinter vorgehaltener Hand, doch sie sollten es laut tun. Nicht, weil ich denke, dass die Zweifler*innen Recht haben und die Kontaktsperre falsch ist. Vielmehr folgen wir gerade einer bestimmten Lehrmeinung zur angemessenen Handhabung einer Pandemie und haben somit Wissenschaft und die diese betreibenden Wissenschaftler*innen zu Krisenmanager*innen ernannt. Und hier verhält es sich wie im Beispiel der Demokratiebeschaffenheit: Wissenschaft lebt vom Pluralismus, vom Kampf der Argumente und von Wissenschaftler*innen als Überzeugungstäter*innen. Wenn also zwei Virolog*innen sich widersprechen, dann ist dies nicht besorgniserregend, sondern vielmehr business-as-usual. Kritische Einsprüche sind täglich Brot der Wissenschaft und ein Verweis auf die demokratietheoretische Spannweite der Maßnahmen dürfte wohl von den wenigsten Virolog*innen profund parliert werden. Sie sind Virolog*innen, keine Politikwissenschaftler*innen, Philosoph*innen o.ä.

Der Pluralismus in der Wissenschaft lässt mehrere Perspektiven zu und verortet die Erkenntnis im Gesamten innerhalb möglicher Widersprüche im Einzelnen. Wissenschaft ist somit systematisch widersprüchlich und auf Diskussion und Zwist ausgelegt. Nur Nichteingeweihte, mit dem System der Wissenschaft und dem Charakter von Forschung und Erkenntnis nicht Vertraute, erheben hierauf die Anklage und wenden ein, dass Uneinigkeit gleichbedeutend mit Unwissen sei. Wo mehrere Lehrmeinungen nebeneinander existieren, da kann keine solide, verlässliche und valide Erkenntnis reifen – lautet ein möglicher Fehlschluss. Tatsächlich lehren und folgen wir stets mehreren wissenschaftlichen Wahrheiten: Man denke bspw. an die Ökonomie, die den Studierenden den Keynesianismus und den Monetarismus lehrt oder an die Philosophie, die ihre Studierenden in verschiedenen und teils grundlegend gegensätzlichen erkenntnistheoretischen Positionen (Realismus, Relativismus, Konstruktivismus usf.) schult. Auch in der Juristerei, Physik, Chemie uvm. gibt es Zwiste; in der Medizin lassen sie sich vielleicht am stärksten in Indien beobachten, wo Ayurveda als eigenständige Disziplin zu den verschiedenen Positionen der Schulmedizin hinzukommt und an Universitäten der Schulmedizin auf Augenhöhe begegnet.

Der Pluralismus der Universität lebt von einer Doppeldeutigkeit des Begriffs, stellte Margherita von Brentano fest und stellte zudem heraus: „Pluralismus meint zunächst ein wissenschaftsorganisatorisches, angewandt auf die Universität ein universitätspolitisches Konzept. […] Pluralistische Wissenschaftsorganisation verlangt, daß die Institution Universität der Vielheit der Verschiedenheit der Inhalte Raum gibt, im Prinzip jede Lehre zuläßt und keine ausschließt, selbst aber nicht als Richter im Streit der Meinungen auftritt“[vi]. Die Wissenschaft ist somit sicherlich eine hervorragende Beraterin, im sokratischen Sinne und heute sicherlich noch meinungsfreudiger als zu Sokrates Zeiten. Doch ob Wissenschaftler*innen per se – denn die monolithische Wissenschaft gibt es nicht – als Krisenmanager*innen taugen, darf bezweifelt werden. Sicher muss angezweifelt werden, dass es unhinterfragte Krisenmanager*innen geben sollte, weshalb das laute Zweifeln ein demokratischer wie wissenschaftlicher Akt mündiger Bürger*innen zu sein scheint. Wir brauchen wieder ein gesundes Verhältnis zu Kritik und Widerspruch und dieses wird nur sicht-und hörbar, kann nur eingeübt werden, wenn wir uns im Stellungbeziehen ausprobieren und trainieren, das Positionieren einüben und unsere Meinungen, ob laut oder leise, öffentlich kundtun.

[i] Streitbörger, Ambiguitätstoleranz.

[ii] ebd.

[iii] Diettrich, Indien und COVID-19.

[iv] Thielke, Plünderungen beim Lockdown.

[v] Pittner, Polizeidrohne soll Spaziergänger überwacht haben.

[vi] Brentano, Akademische Schriften.

Literaturverzeichnis

Brentano, M. v. (2010). Akademische Schriften. Göttingen: Wallstein Verlag.

buchreport.de. (12 2018). Bestseller. Von www.buchreport.de: https://www.buchreport.de/bestseller/buch/isbn/9783150194928.htm/ abgerufen

Diettrich, S. (4. April 2020). Indien und COVID-19: Polizei setzt Ausgangssperre mit Gewalt und Folter durch. Von www.deutschlandfunk.de: https://www.deutschlandfunk.de/indien-und-covid-19-polizei-setzt-ausgangssperre-mit-gewalt.799.de.html?dram:article_id=474048 abgerufen

Iskandar, K. (7. April 2020). Corona-Verbote: Transparent bleiben. Von www.faz.net: https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/corona-verbote-frage-der-verhaeltnismaessigkeit-16715132.html abgerufen

Pittner, R. (5. April 2020). Quarantäne: Polizeidrohne soll Spaziergänger überwacht haben. Von www.kurier.at: https://kurier.at/chronik/oesterreich/quarantaene-polizeidrohne-soll-spaziergaenger-ueberwacht-haben/400803713 abgerufen

Spiegel-Umfrage. (2. April 2020). Mehrheit hält Corona-Lockdown für angemessen. Von www.spiegel.de: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-ausgangsbeschraenkungen-mehrheit-haelt-massnahmen-fuer-angemessen-a-238b45f3-c1fb-437a-9a20-e4d8237681ca abgerufen

Steinmeier zur Corona-Krise. (26. März 2020). Von www.tagesschau.de: https://www.tagesschau.de/inland/steinmeier-coronavirus-103.html abgerufen

Streitbörger, W. (30. 12 2019). Ambiguitätstoleranz: Lernen, mit Mehrdeutigkeit zu leben. Von www.deutschlandfunkkultur.de : https://www.deutschlandfunkkultur.de/ambiguitaetstoleranz-lernen-mit-mehrdeutigkeit-zu-leben.976.de.html?dram:article_id=466828 abgerufen

Thielke, T. (5. April 2020). Corona-Krise in Kapstadt: Plünderungen beim Lockdown. Von www.faz.net: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/corona-krise-in-kapstadt-pluenderungen-beim-lockdown-16713010.html abgerufen

WHO. (Januar 2020). About the virus: Coronavirus disease (COVID-19) outbreak. Von http://www.euro.who.int: http://www.euro.who.int/en/health-topics/health-emergencies/coronavirus-covid-19/novel-coronavirus-2019-ncov abgerufen

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