Kritik zu Hartmut Rosas Kritik der Zeitverhältnisse

Kritik zu Hartmut Rosas Kritik der Zeitverhältnisse

In Kritik der Zeitverhältnisse: Beschleunigung und Entfremdung als Schlüsselbegriffe einer erneuerten Sozialkritik beschreibt der deutsche Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa Soziologie als Gesellschaftskritik. Die Verknüpfung dieser beiden Praxen – Beschleunigung und Entfremdung – in der Gegenwart erläutert Rosa zu Beginn seines Aufsatzes, wobei er auf die Autonomie als „Grundversprechen der Moderne“ [i] eingeht. In weiterer Folge widmet sich Rosa der kritischen Betrachtung der westlichen spätmodernen Gesellschaft und nimmt dabei konkret Bezug auf zwei Phänomene. Einerseits führt ein immerwährender und in allen Ebenen unseres Lebens wahrnehmbarer Wettbewerb zu einer steten Beschleunigung unseres Alltags. Dadurch bedingt entsteht andererseits ein Gefühl der Entfremdung, ausgelöst durch schwindendes Empfinden von Selbstwirksamkeit beziehungsweise durch Kontrollverlust über die eigene Lebensgestaltung.[ii]­

Im Folgenden gehe ich der Frage von Kritik als “Universalmethode” für Forschung und Gesellschaft nach. Dabei betrachte ich vor allem den ersten Teil von Rosas Argumentation, da Kritik im zweiten Teil nicht mehr theoretisch thematisiert, sondern von Rosa nach den von ihm beschriebenen Maßstäben praktisch zur Anwendung gebracht wird.

Rosa versteht unter Soziologie das kritische Hinterfragen sozialer Verhältnisse und geltender Lebensstile. Soziologischer Forschung liegt stets die Frage zugrunde, unter welchen Bedingungen Mitglieder einer Gesellschaft ein gutes Leben erreichen können. Demnach behandelt sie einzig Phänomene, die in ihrer kulturellen Bedeutung für die Beantwortung dieser Frage als relevant erachtet werden. Die Bewertung jener Phänomene wiederum (hinsichtlich ihrer Relevanz für das Erreichen guten Lebens) erfolgt in subjektiver Weise durch die jeweilige Gesellschaft, die Gegenstand der Forschung ist. So bilden sich die Maßstäbe für die Anwendung von kritischer Soziologie gesellschaftsimmanent, da eine ideale Lebensform weder universell noch zeitunabhängig definierbar ist. [iii]

Dieser Vergleich von Soziologie und Gesellschaftskritik wird von Rosa weithin schlüssig dargelegt. Bereits zu Beginn seiner Argumentation nennt er als Basis von Soziologie die „Wahrnehmung, dass in den sozialen Verhältnissen etwas nicht stimmt.“[iv] Dabei scheint er einen bedeutsamen Aspekt außer Acht zu lassen. Zwar leuchtet die Aussage ein, Soziologie beschäftige sich mit der Frage nach dem guten Leben[v], jedoch kritisieren soziologische Studien vorherrschende Lebensstile nicht zwangsläufig. Durchaus werden sie auch anhand von Positivbeispielen, beziehungsweise mit neutralem Blick auf die Gesellschaft, durchgeführt. So beschäftigen sich beispielsweise zahlreiche soziologische wie auch multidisziplinäre Analysen mit den Auswirkungen des Bruttosozialglücks (BSZ) auf die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Ordnung Bhutans.[vi] Mittlerweile definieren immer mehr Länder Glück als Staatsziel.

Zwar relativiert Rosa selbst sein Verständnis von Soziologie als rein korrektive Disziplin, zum Beispiel wenn er von Prozessen schreibt, die „dem Gelingen menschlicher Lebensführung entgegenwirken oder umgekehrt, es befördern“[vii] und dadurch Gegenstand kritischer Sozialforschung werden. Jedoch bezieht er sich in seiner weiteren Ausführung über die Analyse gelingender Lebensstile fast ausschließlich auf potenzielle Pathologien, also „soziale Zustände, die unvermeidlich menschliches Leiden zur Folge haben.“[viii] Während diese Herangehensweise für Gesellschaftskritik im Allgemeinen überzeugend scheint, kann Soziologie in ihrer Gesamtheit nicht ausschließlich auf eine solche Fehlersuche in sozialen Verhältnissen reduziert werden.

Den Ursprung von kritischer Sozialforschung verortet Rosa im Beginn der Moderne, ausgehend von der Industrialisierung, Urbanisierung, Rationalisierung und Individualisierung, des 19. und 20. Jahrhunderts.  Der moderne Liberalismus-Gedanke, also das Streben nach Autonomie, hat als Katalysator für gesellschaftskritische Reflexionsprozesse gewirkt. Der damalige Wunsch nach individueller und kollektiver Freiheit manifestierte sich in sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, beispielsweise in der Etablierung demokratischer Regierungssysteme und freier Marktstrukturen. Ebendieses „Autonomieversprechen der Moderne“ [ix] führt jedoch in der heutigen Zeit potenziell zu Pathologien und einer (negativen) Veränderung der Weltbeziehungen.

Es kann kaum geleugnet werden, dass der Umbruch zur Moderne erhebliche Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen unseres Lebens hervorgerufen hat, wie auch Rosa sie aufzählt. Ebenso steht außer Frage, dass Autonomie als Ideal menschlicher Entwicklung gewisse Schwierigkeiten mit sich bringt, wenn sie ohne Rücksicht auf andere Werte als oberstes Ziel angestrebt wird. Dass wir Menschen zur Erfüllung unseres Glücks auf soziale Interaktion mindestens genauso angewiesen sind wie auf Autonomie, bezeugen zahlreiche psychologische Modelle über menschliche Grundbedürfnisse.[x] Autonomie darf demnach nicht bedeuten, das eigene Glück losgelöst von der „ganz im Sinne Habermas‘ – […] objektiven Welt der Dinge [und der] sozialen Welt der […] anderen Menschen“[xi] zu verfolgen.

Rosa selbst schließt daraus, dass Autonomie als Leitbild für ein gelingendes Leben nicht mehr kompatibel mit den gegenwärtigen Lebensbedingungen ist und sie daher dem Anspruch eines Maßstabs für zeitgenössiche Gesellschaftskritik nicht mehr gerecht wird.[xii] Alternativ soll sich kritische Sozialforschung in der heutigen Zeit an Beschleunigung und Entfremdung orientieren. Interessant ist dabei, dass Autonomie als Lebensziel positiver behaftet scheint, wenngleich es zu Pathologien führen kann, wie bereits erläutert wurde. Dahingegen stellt Rosa den Mehrwert von Beschleunigung und Entfremdung als gesellschaftliche Tendenzen stärker infrage.[xiii] Beschleunigung beschreibt er als „Zwang zur Produktivitätssteigerung“[xiv] und immerwährendes Konkurrenzdenken. Entfremdung setzt Rosa mit dem „Verlust von Autonomie“[xv] gleich, der durch fortwährende Beschleunigung verstärkt würde.[xvi]

Dabei handelt es sich um transkulturelle Pathologien und somit um Schlüsselkategorien für eine Gesellschaftskritik der Gegenwart. Auch wenn man Rosa in seiner Analyse der spätmodernen westlichen Gesellschaft anhand dieser beiden Phänomene zustimmt, bleibt somit die „Frage nach gelingenden Leben unabhängig vom Autonomieideal“[xvii] offen.

Da der Modernisierungsprozess laut Rosa durch Beschleunigung und Entfremdung, mehr als Autonomie, charakterisiert wird, setzt er die Suche nach einer Alternative zu einem dieser Konzepte mit der Suche nach einer Alternative zur Moderne gleich.[xviii] Mit der Begründung, dass „jede Antwort […] dem Horizont ebendieser Moderne selbst entstammen [müsste]“[xix], lehnt er die Erörterung dieser daher sogar anmaßend erscheinenden Frage ab. Allerdings kennzeichnet doch jede Form von Modernisierung genau dieses sprichwörtliche out-of-the-box-Denken, also das Entstehen innovativer Ansätze zu einer Zeit in der sie im Vergleich zum vorherrschenden Ideenhorizont revolutionär oder gar undenkbar scheinen. In diesem Sinne wäre es spannend, sich auf die Suche nach einem zeitgemäßen Leitbild für gutes Leben zu begeben, das Autonomie als solches ergänzen oder gar ersetzen könnte.

Dabei ist zu betonen, dass selbst innerhalb einer Kultur viele verschiedene Lebensstile parallel vorherrschen können und es kaum möglich ist, eine perfekte und allgemeingültige Haltung zu herauszufiltern. Rosa erkennt diese Schwierigkeit in Bezug auf eine universelle Betrachtung menschlicher Kulturen an.[xx] Ähnliche Gedanken finden sich bereits bei Jürgen Habermas:

„Eine Soziologie, die ‚Gesellschaft‘ fast immer als eine durch den Nationalstaat definierte Größe, eben als nationale Gesellschaft, betrachtet hat, stößt bei einem politisch schwach strukturierten Gebilde wie der ‚Weltgesellschaft‘ auf konzeptionelle Schwierigkeiten.“[xxi]

Gleichzeitig haben einige Werte, so auch Freiheit beziehungsweise Autonomie, mittlerweile dennoch universelle Gültigkeit und werden beispielsweise von den Vereinten Nationen in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten.[xxii] Rosas Vergleich von Soziologie und Gesellschaftskritik ist insgesamt schlüssig, wobei ein rein synonymer Gebrauch der zwei Begriffe keiner der beiden Praxen gerecht würde. Jedenfalls regen seine Beobachtungen in Bezug auf die westliche Gegenwartsgesellschaft dazu an, die eigene (und kulturell etablierte) Lebensweise kritisch zu hinterfragen.

Dieser Beitrag wurde von der Studentin M. Miller-Aichholz verfasst. Er entstand im Wintersemester 2019/20 im Rahmen des Seminars „Bloß Kritik? – Diskussionen zur ‘Universalmethode’ für Forschung und Gesellschaft“ von Frederik Metje an der Leuphana Universität Lüneburg.


[i] Rosa, H. (2009). Kritik der Zeitverhältnisse. In R. Jaeggi, & T. Wesche, Was ist Kritik? Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 23-54, hier S. 31.

[ii] Rosa, Kritik der Zeitverhältnisse; S. 22, 24.

[iii] Ebd. S. 6.

[iv] Ebd. S. 23.

[v] Ebd. S. 4.

[vi] z.B. Burns, G. (2011). Gross National Happiness: A Gift from Bhutan to the World. In R. Biswas-Diener, Positive Psychology as Social Change. Dordrecht: Springer, S. 73-87.; Illy, H. F. (2009). Bhutan auf der Suche nach dem “Bruttosozialglück”. In: T. Hanf, H. Weiler, & H. Dickow, Entwicklung als Beruf. Baden-Baden: Nomos, S. 282-292.; Johnson, J. (2004). Development as Freedom, Freedom as Happiness: Human Development and Happiness in Bhutan . In Proceedings of the First International Conference on Operationalization of Gross National Happiness. Thimpu: Centre for Bhutan Studies, S. 457-471.

[vii] Rosa, Kritik der Zeitverhältnisse, S. 27.

[viii] Ebd. S. 4.

[ix] Ebd. S. 47.

[x] z.B. Seligman, M. E. (2012). Flourisch. New York City: Atria Books. Retrieved Jänner 27, 2020, from Positive Psychology Center; Maslow, A. (1943, Juli). A Theory of Human Motivation. (A. P. Association, Ed.) Psychological Review, pp. 370-396. Retrieved Jänner 27, 2020, from Classics in the History of Psychology.

[xi] Rosa, Kritik der Zeitverhältnisse, S. 33.

[xii] Ebd. S. 7.

[xiii] Ebd. S. 25.

[xiv] Ebd. S. 18.

[xv] Ebd. S. 22.

[xvi] Ebd. S. 24.

[xvii] Ebd. S. 32.

[xviii] Ebd. S. 9.

[xix] Ebd. S. 33.

[xx] Ebd. S. 6.

[xxi] Habermas, J. (1998). Jenseits des Nationalstaats? In U. Beck, Politik der Globalisierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 67-84.

[xxii] vgl. Vereinte Nationen. (1948). Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Paris: Vereinte Nationen.

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