„Die Welt zerfällt in Rosa und Blau / Irgendwie gibt es nur zwei Farben – wieso eigentlich genau?“ Zum Gender(marketi)n(g) in der Kinder- und Jugendkultur damals und heute

„Die Welt zerfällt in Rosa und Blau / Irgendwie gibt es nur zwei Farben – wieso eigentlich genau?“ Zum Gender(marketi)n(g) in der Kinder- und Jugendkultur damals und heute

„Die Welt zerfällt in Rosa und Blau / Irgendwie gibt es nur zwei Farben – wieso eigentlich genau?“ Das Titelzitat aus Sukinis Rap-Track Glitzer (2019) behauptet/impliziert zweierlei: 1) Es gibt eine bipolare Trennung in zwei Sphären, die mit „Rosa und Blau“ als sozialgeschlechtliche Demarkationslinie zwischen Mädchen und Jungen präzisiert werden kann. 2) Mit der präsentischen Formulierung („zerfällt“ und „gibt“) wird insinuiert, dass es früher anders (und sogar: ‚ganz‘) war.

Ich zäume das Pferd von hinten auf und zeichne in einem ersten Schritt in wenigen Strichen die Herausbildung des Gender(marketi)n(g)s in der Kinder- und Jugendkultur nach. Dabei wird sich zeigen, dass früher zwar einiges anders, mitnichten aber alles besser war. In einem zweiten Schritt arbeite ich hauptsächlich am Beispiel von Rap-Tracks für Kinder von Sukini heraus, wie geschlechtliche/farbliche Bipolarität sowohl ganz konkret in Bezug auf Jungs gegen Mädchen, Mädchen gegen Jungs (Titeltrack zum gleichnamigen Bibi und Tina-Film 2016) als auch auf Metaebene (Öffnung der Denkschablone von Zweiheit) einer profunden Kritik unterzogen wird. Diese konkreten Beispiele sind Teil eines nicht unerheblichen Anteils von ambitionierter Musik, Film und Literatur etc. am Markt, der vielleicht sogar ein wenig Hoffnung machen kann.

[Disclaimer: Ich gehe als Prämisse davon aus, dass Gendermarketing und geschlechtliche Bipolarität begründet kritisierbar sind. Damit ist an dieser Stelle weder eine Pro- noch eine Kontraargumentation in puncto gendersensibler Sprache tangiert.]

1. Von maskulinem Rosa, Puppen, Autos und Ü-Eiern für alle

Dass zumindest „im westlichen Kulturkreis“ für viele Jahrhunderte (und bis ins dritte/vierte Jahrzehnt des 20.) Rosa, als die kleine Schwester des Rots, die Farbe „richtige[r] Jungen“ war, und vice versa ‚richtige‘ Mädchen – in Anlehnung an die traditionelle „Farbe der Jungfrau Maria“: Blau – hellblau trugen, ist glücklicherweise mittlerweile vielen Menschen bekannt.[1] Wenn ich mich heute gegenüber meinem Sohn allerdings darauf berufe, schlägt mir dennoch Missverständnis entgegen. Selbst meine Tochter sagt, sobald ich ihr in rosa Kleidungsstücken unter die Augen trete, dass Rosa ihre Lieblingsfarbe sei und ich als Mann – sie wisse nicht recht. „Und diese beiden Farben sind genauestens sortiert / Für Jungen und Mädchen; hab das bis heute nicht kapiert // Grün, Braun, Rot, Gelb, Schwarz, Lila, Türkis / Warum tragen nicht alle Kinder alle Farben, die es gibt?“ (Glitzer)

In meiner Kindheit in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts habe ich Kleidung jedweder Couleur (auf-)getragen. Mein Taschengeld für die Einrichtung des Puppenhauses ausgegeben und für Spielzeugautos, habe Kriegsschiff-Modellbausätze geschenkt bekommen, aber auch Hanni und Nanni-Bücher. Hauptsächlich habe ich aber – so sagt es meine ‚rosarote‘ Erinnerung – Sachen gemacht, die unabhängig vom biologischen oder sozialen Geschlecht sind oder erst in der Folgezeit eindeutig gegendert worden sind: Papierflieger, Musik, Murmeln…das ist nichts, was nur für Mädchen oder Jungen gedacht ist. Kirschkernweitspucken. Genderneutrales Baumhausbauen (vgl. Willi Wiberg spielt doch nicht mit Mädchen von 1985[2], der übrigens von seinem Vater aufgezogen wird). Blumenkränze flechten (jaja, das ist freilich intermedial soundso codiert, aber uns/mir war das nicht suspekt).

Damals waren auch Überraschungseier noch für alle da: Sie hießen im Untertitel mit generischem Markennamen ja auch Kinder-Überraschung – und schon Kinder sind eben manchmal cis-männlich, manchmal cis-weiblich und manchmal intergeschlechtlich. Das war also gar nicht mal schlecht. Allerdings offenbart ein zweiter Blick auf diese ‚geschlechtergerechte‘ Konzeption durchaus schon Anflüge von Gendermarketing avant la lettre: Denn die Happy Hippos, die Krokodile, die Schlümpfe und weitere serielle Zehner-Päckchen waren zum einen biologisch-bipolar (mir ist keine Serie erinnerlich, die nicht in Frauen- und Männerpendants zerfiel) und zum anderen in erschreckender Einfachheit mit alliterierenden Gender-Attributen belegt, die ‚typische‘ Geschlechterrollenbilder perpetuierten. So steht in der Kroko-Schule 1991 Herrn „Direktor Professor Konrad Gnädig“ als rangoberste Frau „Frl. [= Fräulein!] Adele Bruchstrich“ (lila gekleidet) gegenüber, Lisa Liebreiz schmachtet den muskulösen Rudi Riesen-Felge an und Tina Tonleiter trägt neben den musischen Insignien Stimmgabel und Geige: Perlenkette, Lidschatten – und rosa![3] (Vgl. eierwiki.de) Das schleust schon damals durch die Hintertür das Problem ein, um das es hier geht: die seichte und wohlfeile Aufteilung in weiblich und männlich codiertes Verhalten und die qua Abbildung performativ wirksame Festschreibung auf Quote (drei Frauen, sieben Männer) und Bildungsgrad (neben dem Professor: Dr. Karl Knallgas – ok, es handelt sich um die Karikatur des mad scientists; trotzdem) und mithin das Denken in zwei sich ausschließenden Dimensionen.

Das ist jetzt 30 Jahre her! Und man könnte denken, dass, wenn schon damals nicht alles besser war, heute alles besser wäre, aber sowohl die Stammtischparolen und Herrenwitze sind dieselben geblieben als auch die Ablehnung der Bedingung der Möglichkeit von Diversität. Für das hier in Rede stehende Phänomen kann man ebenfalls konstatieren, dass weiterhin böse Blüten treiben: Obwohl Ferrero wiederholt bestreitet, dass Ü-Eier gegendert werden würden[4] gab es 2019 zu Ostern explizite Jungs-Eier (sportlicher Wettkampf in der Farbe Blau) und die Mädchenvariante (harmloses Picknick in Rosa). Das ist ein Blickwinkel auf die hässliche Kommerzfratze von dichotom Wilden Kerlen vs. Wilden Hühnern, drei ??? vs. drei !!! und anderem Murks, wenngleich man nicht leugnen kann, dass auch dieser Beitrag droht, das Entweder-oder zu prolongieren.

Jedenfalls ist die zweite Präsupposition des Titelzitats dahingehend zu beantworten, dass, obwohl früher beileibe nicht alles besser war, für das Gendermarketing heute festgehalten werden kann, dass „[d]ie Welt zerfällt in Rosa und Blau“.

2. Sozialgeschlechtsloser Glitzerstreif am Horizont

Die Frage der Rap-Persona Sukini, warum das so sei, ist für erwachsene Rezipient*innen freilich als rhetorische schnell erkannt: aus Gründen (des Geldes, der Einfachheit von Schubladen). Allerdings gibt es eine nicht unerhebliche Palette an Kinder- und Jugendmedien, die dieser Tendenz Paroli bieten.

Insbesondere die Tracks von Sukini, ehemals als Sookee Rapperin ‚für Große‘, bilden ein Paradebeispiel für die Subversion von Geschlechterrollenstereotypen, das Werben um Toleranz und eine Absage an das Patriarchat.[5] Schon die Produktinformation zu Sukinis Debütalbum Schmetterlingskacke (2019) macht aus dieser linksintellektuellen und in Teilen „queerfeministishen“ [!] Ausrichtung keinen Hehl: „Du liest gerade einen Pressetext über ein Album, auf dem Phantasie auf Anarchie gereimt wird. Auf dem traditionelle Geschlechterrollen nur noch Staffage in der Geisterbahn sind und das kindliche Ich an der Enttabuisierung von Rassismuserfahrungen mitwirkt.“[6] Trotz dieser ambitionierten pädagogischen Agenda handelt es sich bei den durchaus auch in puncto Intermedialität (Bezüge auf andere Rap-Tracks ‚für Erwachsene‘) etc. punktenden Titeln nicht um erhobene Zeigefinger in Musikform. Insbesondere aufgrund des fantasiereichen Storytellings, des Wortwitzes und der nicht abgegriffenen Metaphernwelt drohen sie nie dazu zu verkommen, leere Phrasen zu dreschen.

So übt exemplarisch der Track Prinzessin Peach[7] Kritik am Gendermarketing zwischen Archaisierung und Pinkifizierung[8], dekonstruiert traditionelle binäre Rollenzuschreibungen (stark/schwach, aktiv/passiv etc.) und demontiert die jahrelang unhinterfragte These, „Prinzessin Peach sei der Inbegriff der zu rettenden Jungfrau in Nöten“.[9] Der Track spielt die Empowerment-Geste anhand der Prinzessin aus der Videospiel-Reihe Mario durch, die ihrerseits immer nur schmückendes Beiwerk ist und nicht einmal eine Biografie spendiert bekommt, sondern aufs Warten reduziert wird. In Prinzessin Peach erhält die titelgebende Figur indessen sowohl ‚typisch‘ männliche als auch weibliche Attribute zugewiesen: Sie gründet einen Tierschutzverein, weil sie Marios Schildkrötenbashing gemein findet, hat aber auch schwarze Gürtel in Kampfsportarten und trainiert sogar Marios Gegner; sie kann backen, schwimmt mit Arielle und geht skaten mit Schlumpfine.

Allerdings wird die Bipolarität bei Sukini nicht perpetuiert, sondern ins Androgyne aufgebrochen, insofern, als vor den Sündenfall der zweigeschlechtlichen Denkmuster zurückgekehrt wird. Das ist in Prinzessin Peach schon durch die jeweilige Wahl der Hobbies vorgezeichnet: So macht sie Wing Chun und Krav Maga, aber boxt nicht, programmiert Computerspiele und ist sich unschlüssig, ob sie eher Hockey oder Fußball lieber mag. Über das Album verstreut manifestiert sich diese Genderneutralität überdies dadurch, dass:

  • die generische Benennung negiert wird. In Im Herzchen heißt es schlicht: „Feiern wir Hochzeit eines Tages?“, sonst wird lediglich mit „Ich“ und „Du“ operiert;
  • Crossgenderzuweisungen und positiv konnotierte Fähigkeiten/Einstellungen als für alle Geschlechter desiderabel herausgestellt werden: „Skateboard, Gitarre, Stifte, Springseil und Schminke“ (Glitzer) werden in dieser Reihung nicht explizit zugewiesen;
  • sexuelle Bipolarität expressis verbis hinterfragt wird: „Ob Junge oder Mädchen, ob Einhorn oder Hase / […] Ob Mann, ob Frau oder Dritte Option“ (Glitzer);
  • weibliche Rollenfiguren als Identifikationsangebote für alle entworfen werden (etwa in Form von Peach; s.o.);
  • zeitgemäße, alternative Lebensentwürfe verhandelt werden (Meine Mamas);
  • Hörer*innen jedweden (sozialen) Geschlechts zur Selbstermächtigung angeleitet werden. Am Ende von Prinzessin Peach wird die Kernaussage des Titels und zugleich die Hook: „In echt hat sie es faustdick hintern Ohrn / Um gerettet zu werden, ist ne Prinzessin nicht geborn“, umgemünzt in: „In echt hast du es faustdick hintern Ohrn“ (Prinzessin Peach; Herv. N.L.).

Diese erfreuliche Tendenz ist nicht neu und auch nicht auf die Musik beschränkt[10] und nimmt so langsam zu – selbst neuere Kinostreifen wie Drachenzähmen leicht gemacht etc. arbeiten nicht nur mit untypischen und überraschenden m-/w-Entwürfen, sondern problematisieren zugleich altbackene Zuschreibungsroutinen.

Als abschließendes literarisches Beispiel sei Finn-Ole Heinrichs Maulina Schmitt-Trilogie erwähnt[11], die zeigt, dass es nicht nur noch im schlechten Wortsinne gendernde Marketingstrateg*innen und -strategien gibt, nicht nur noch „kapitalorientierte Konzerne“, die „produzieren […], was sich gut verkaufen lässt und das sind eben meist nicht die anspruchsvollsten und interessantesten und wagemutigsten Bücher“.[12] Heinrich selbst tritt den Beweis an, indem die Maulina-Bände nicht nur „in komplexen Formen Genderzuschreibungen und Identitätskonstruktionen“ „durchkreuzen“[13], sondern neben All-age- auch All-gender-Lektürelust bieten. Es gibt eine weibliche Hauptfigur. Die trägt aber kein rosa und kennt eher Andersens Märchen der Schneekönigin als unser aller Elsa (obwohl die ja immerhin ein hellblaues Türkis trägt, sofern nicht Prinzessin Peach ihr ein silbernes Kleid näht, wie es im Track heißt, und coole Superheldinnenskills hat). Ihr Kumpel Paul hat ein unprätentiöses Coming-Out, Pferde gibt es nur als Zebra-Allegorie, es geht vielmehr um „Agentenkram“ etc. – aber eben nicht nur, sodass man eine heimlich hellblau-markierte Mogelpackung vor sich wähnte, sondern viele Figuren und Motive sind im besten Sinne androgyn: Es geht um Gefühle, um das Sprechen darüber, um Leid und Trauer, um Lachen und Humor, um den Weg zu sich selbst und um Selbstermächtigung. Und das sind sowohl biologisch als auch sozial gedacht universell menschliche Dinge, die einen kleinen Schimmer von geschlechtslosem Glitzer am Horizont erahnen lassen – auch wenn es von Papier und Gesetz bis zum Abbild in der Gesellschaft noch ein weiter Weg ist.


Über den Autor: Nils Lehnert (Dr. phil.), forscht und lehrt als Post-Doc am Institut für Germanistik der Universität Kassel in den Schnittflächen von Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft vom 18.–21. Jahrhundert. Schwerpunkte in der KJL und der Popkultur.


[1] Heine, Matthias (2011): Als richtige Jungen noch Rosa trugen. In: Welt online. URL: https://www.welt.de/print/die_welt/politik/article13232160/Als-richtige-Jungen-noch-Rosa-trugen.html (28.07.2021).

[2]  Bergström, Gunilla (1985): Willi Wiberg spielt doch nicht mit Mädchen. Hamburg: Oetinger.

[3]  Vgl. eierwiki.de (Die Kroko-Schule). URL: http://www.eierwiki.de/index.php?title=Die_Kroko-Schule  (28.07.2021).

[4] goldener-zaunpfahl.de (Das Ü-Ei IST gar nicht gegendert!). URL: https://goldener-zaunpfahl.de/das-ue-ei-ist-gar-nicht-gegendert/  (28.07.2021).

[5]  Vgl. Siegmund, Anna (2019): Sukini, Deine Freunde & Giraffenaffen: Rap, den du mit deinen Kindern hören kannst. In: hiphop.de. URL: https://hiphop.de/magazin/hintergrund/sukini-336321?page=2,0 (28.07.2021).

[6] universal-music.de (Produktinformation Schmetterlingskacke). https://www.universal-music.de/sukini/musik/schmetterlingskacke-553761  (28.07.2021).

[7]  Text Prinzessin Peachhttps://genius.com/Sukini-prinzessin-peach-lyrics

[8]  Böhm, Kerstin (2017): Archaisierung und Pinkifizierung. Mythen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Kinder- und Jugendliteratur. Bielefeld: transcript.

[9]  universal-music.de (Produktinformation Schmetterlingskacke)

[10]  Vgl. Lehnert, Nils (2022): Miss Quasselstrippe und Mister Muskel – Von Bipolarität, Geschlechterstereotypen und Temperamentenlehre sowie deren Subversion in Roger Hargreaves’ Unser Herr Glücklich und seine Freunde. In: Gender in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Weertje Willms. Berlin: DE GRUYTER [beim Verlag; erscheint Anfang 2022].

[11]  Lehnert, Nils (2021): „Es wird einmal“ in Mauldawien. Serialitäts-, transtextualitäts- und genderdidaktische Annäherungen an Finn-Ole Heinrichs Maulina Schmitt-Trilogie. In: Serialität in der Kinder- und Jugendliteratur. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven. Hrsg. v. Ina Brendel-Perpina u. Anna Kretzschmar. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 163–177.

[12]  Heinrich zitiert nach: Mikota, Jana/Oehme, Viola (2018): Finn-Ole Heinrich. „Nicht alles auserklären“. Hrsg. v. SCHRIFT-KULTUR. Siegen: Universitätsverlag Siegen, S. 89.

[13] Roeder, Caroline/Josting, Petra/Dettmar, Ute (2016): Vorwort. In: Immer Trouble mit Gender? Genderperspektiven in Kinder- und Jugendliteratur und -medien(forschung). Hrsg. v. Petra Josting, Caroline Roeder u. Ute Dettmar. München: kopaed, S. 9–15, hier S. 11.

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