Die Pandemie politisiert die Gemüter. Zu lasch sind die Maßnahmen zur Eindämmung, zu stark werden Rechte eingeschränkt. Für die Wirtschaft agieren oder für die Gesundheit? Meinungen, Positionierungen und Stellungnahmen in Pandemiezeiten sind divers – emotional, rational, abwägend und aufbrausend. Ungeduldig, abwägend, (re)aktionistisch, verzweifelt sowie hoffnungsvoll.
Wie sich die Praxis des Stellungbeziehens durch die Pandemie verändert hat, haben wir – Simon Rettenmaier und Verena Häseler (philosophike-Mitherausgeber*innen) in unserem Beitrag „Stellungbeziehen und Positionieren in Zeiten der Pandemie“ auf der Tagung „Pandemie, Protest und Populismus – Verunsicherung und Verwerfungen des Politischen nach Corona“ analysiert. Dabei sind wir der grundlegenden Annahme gefolgt, dass das Stellungbeziehen unabdingbar für einen gelingenden Diskurs im Sinne eines erkenntnistheoretischen Diskurses ist und darüber hinaus auch ein genuin demokratisches Ereignismoment beinhaltet.
Zunächst stellten wir komprimiert Ergebnisse und Definitionsansätze der philosophike-Stellungbeziehen-Blogreihe vor und entwickelten im Anschluss daran sowie in Anlehnung an Ralf Dahrendorfs engagierten Beobachter[i], Paul Ricœurs Bezeugung[ii] und Martin Hartmanns Praxis des Vertrauens[iii] ein „Geländer“ bzw. eine Grundhaltung für das eigene Stellungbeziehen.
Die aus der Synthese Dahrendorfs, Ricœurs und Hartmanns Gedanken resultierende Praxis des Stellungbeziehens bedarf in ihrer Ausübung bzw. Umsetzung jedoch einem spezifischen Personen-Typus: den engagierten, aber auch bekennenden Beobachter*innen, die es wagen, sich auf den Balance-Akt zwischen Engagement, Beobachtung und persönlicher Involvierung einzulassen und ihre Standpunkte unparteilich genealogisch öffentlich darzulegen. Diese Praxis des Stellungbeziehens ist unserer Meinung nach das einzige Hilfs- oder gar Gegenmittel gegen populistische Stellungnahmen.
Im Rahmen der Tagung, die am 16./17. September 2021 im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig stattfand und zudem durch die Hans-Böckler-Stiftung, FORENA (Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus/Neonazismus der Hochschule Düsseldorf) und die slpb (Sächsische Landeszentrale für politische Bildung) gefördert wurde, wurde sich engagiert zu Fragen und Themen rund um Protestformen und -performanzen, populistische Ideen und Akteur*innen sowie demokratische Handlungsmöglichkeiten in Pandemiezeiten ausgetauscht.
Wissenschaftler*innen, Sozialpädago*innen wie auch Sozialarbeiter*innen, Politikwissenschaftler*innen, Journalist*innen uvm. kamen zusammen, um den durch die Pandemie angestoßenen oder beschleunigten sozialen Transformationsprozess zu betrachten und einzuordnen, um Konflikt- und Gefahrenpotenziale politischer Protestformen zu analysieren, gesellschaftliche Spaltungsmomente zu markieren, das Krisenmanagement der Regierenden zu beleuchten und vor allem um demokratische Handlungsoptionen zu diskutieren.
Die unterschiedlichen Reaktionen und Aktionen politischer Akteur*innen in der Pandemie, die temporäre Grundrechtseinschränkungen und der zu beobachtende Rechtsruck wurden durch die Brillen unterschiedlichster Sozial- und Geisteswissenschaften analysiert und durch Beiträge aus der Praxis sowie zivilgesellschaftlichen Perspektiven untermauert.
Vor allem die Fragen nach den eigenen Handlungsmöglichkeiten sowie der eigenen Verantwortung mit Blick auf Verschwörungstheorien, Fake-News etc. und den konkreten Umgang mit Corona-Leugner*innen wurden engagiert diskutiert.
Im Abschlusspodium berichtete dann u.a. Dirk Neubauer (parteiloser Bürgermeister von Augustusburg und Buchautor) von seiner eigenen Praxis des Standpunktbeziehens und engagierten und aktiven Zuhörens, die inhaltlich an unseren Beitrag anknüpfte. Leider war eine persönliche Unterredung mit ihm im Anschluss an das Podiumsgespräch nicht mehr möglich, vielleicht ergibt sich dies an anderer Stelle nochmal. Wir bleiben dran und würden uns freuen.
Zudem stellte Heike Kleffner (Freie Journalistin und Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt) einige Thesen und Aspekte aus ihrem Buch Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde vor, in welchem sie selbst und einige weitere medienschaffende Kolleg*innen Analysen zum aktuellen Protestmilieu im Zeichen der Corona-Krise anbieten.
Konkret wurden u.a. Fragen wie „Mit Rechten reden?“, „Welche politischen Akteur*innen, Gruppen und Einzelpersonen treten bei Anti-Corona-Protesten und Querdenken-Veranstaltungen unter vermeintlich gemeinsamer ‚Flagge‘ auf und wie mit der heterogenen Masse umgehen?“ oder „Wie reagieren auf die Bandbreite von gefühlten Wahrheiten, esoterischer Politisierung und vermeintlichen Ängsten?“ diskutiert.
Die Tagung stand unter dem Duktus regen Austausches sowie genuinem Erkenntnisinteresse und entließ uns mit neuen Ideen, Impulsen und gleichzeitig hoffnungsvoll wie auch ein wenig deprimiert mit Blick auf die „Gesundheit unsere Demokratie“ ins Wochenende.
Flyer_Pandemie-Protest-Populismus[i] Vgl. Dahrendorf, Ralf: Engagierte Beobachter, Wien 2005.
[ii] Vgl. Ricœur, Paul: Das Selbst als ein Anderer, München 2005.
[iii] Vgl. Hartmann, Martin: Die Praxis des Vertrauens, Berlin 2005.